Der Umbau für den Luftschutz veränderte nicht den gesamten Keller der Kirche. Einige Bereiche waren von den Maßnahmen nicht bzw. nur marginal betroffen: So gab es zum Beispiel an der südlichen Seite der Kirche einen aus zwei Räumen bestehenden Sakristeikeller, der durch eine Tür mit den Luftschutzräumen verbunden war. Und unter dem Haupteingang der Kirche an der Fehrbelliner Straße befand sich ein Heizungskeller. Dieser wurde gegen Ende des Krieges nicht benutzt, da es zu jener Zeit untersagt war, Kirchen zu beheizen. In diesen zwei Bereichen des Kellers wurden damals mehrere Menschen vor den Nazis versteckt. Um diese Ereignisse zu verstehen, ist zunächst ein Rückblick auf die Aktivitäten einer besonderen katholischen Organisation erforderlich, dem „Hilfswerk beim Bischöflichen Ordinariat Berlin“.
Das „Hilfswerk“, auch „Bischöfliche Hilfsstelle“ genannt, wurde 1938 gegründet. Zu seinen maßgeblichen Initiatoren gehörte der Berliner Bischof Konrad von Preysing. Ihm war bewußt, dass dringend eine Einrichtung benötigt wurde, an die sich jene Katholiken wenden konnten, die die Nazis aufgrund ihrer Herkunft als „Juden“ bezeichneten. Denn nicht die Konfession entschied damals darüber, ob man als „Jude“ verfolgt wurde, sondern die Religionszugehörigkeit der Großeltern. So galt man auch als „Jude“, wenn drei oder vier Großelternteile einst dem Judentum angehört hatten. Den „katholischen Nichtariern“ sollte geholfen werden, indem man ihnen bei der Auswanderung half und sie bis dahin unterstützte. Anfangs war der Dompropst Bernhard Lichtenberg für die Belange der Organisation zuständig. Mit dem Beginn der Deportationen aus Berlin im Herbst 1941 änderte sich dann die Struktur des Hilfswerkes: Da die Auswanderung jener, die als „Juden“ verfolgt wurden, inzwischen verboten worden war, konnte man sie nur noch seelsorglich und materiell unterstützen. Das Hilfswerk wurde daher zu einer Seelsorge- und Fürsorgestelle. Bischof Preysing beauftragte eine ausgebildete Fürsorgerin, Dr. Margarete Sommer, mit der Geschäftsführung. Unter Sommers Leitung bemühten sich die Mitarbeiter, den Verfolgten so weit wie möglich zu helfen.
Das „Hilfswerk“ wurde – im Gegensatz zu allen anderen Einrichtungen, die „rassisch“ Verfolgte unterstützten – während des Nationalsozialismus nicht verboten. In der ständigen Gefahr, von der Gestapo und anderen Nazis beobachtet zu werden, versuchten Margarete Sommer und ihre Helfer, den schmalen Grad zwischen legaler und illegaler Hilfe auszuloten. Wie die illegale Hilfe für die Verfolgten dabei konkret aussah, hing ebenso vom Mut der Helfenden ab, wie vom Mut jener, denen geholfen wurde. Dabei riet Dr. Sommer allen Mitarbeitern, nur das zu tragen, was sie an Verantwortung tragen konnten. Mit Beginn der Deportationen aus Berlin wurden dann von Dr. Sommer und ihren Helfern schwere Entscheidungen verlangt. Die Frage, ob man untertauchen sollte oder nicht, musste dabei jeder Verfolgte für sich selbst beantworten.
In ihrer Verzweiflung wagten mehrere tausend Berliner Juden den Schritt in die illegale Existenz. „U-Boote“ nannte man diese Menschen, die in den Untergrund abtauchten und so ihr Leben retten wollten. Dabei waren sie auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen. Für Dr. Sommer, die die Leitung des Hilfswerkes übernommen hatte, und ihre Mitarbeiter erschien es vielleicht nur als eine logische Konsequenz, ihre Arbeit, die legal nicht mehr möglich war, nun auf illegale Weise fortzusetzen. Sie halfen den Menschen, die sich entschlossen hatten, in den Untergrund zu gehen. Dabei folgten sie ihrem Glauben, jenem „höheren Gesetz“, das sie als Kern ihres Wesens betrachteten – wohl wissend, welches Risiko sie dabei eingingen. Wie viele Personen sie insgesamt unterstützten, ist nicht bekannt. Das gilt auch für die Verstecke der „U-Boote“. Aus nachvollziehbaren Gründen beschränkte sich die Kommunikation in diesem Zusammenhang auf das absolute Minimum. Alle Beteiligten wussten jeweils nur das, was sie wissen mussten. Schriftliche Aufzeichnungen wurden nicht gemacht. Zwei namentlich bekannte Personen versteckten sich in den oben beschriebenen, nicht „verbunkerten“ Bereichen des Kirchenkellers – Erich Wolff und Karl Müller. Dr. Herzberg und die Historikerin Ursula Pruß beziffern die Zahl der unter der Kirche versteckten Personen auf insgesamt vier, nennen jedoch keine weiteren Namen. Und sie gehen beide davon aus, dass es in der Gemeinde drei Personen gab, die von allen im Keller bzw. anderen Räumen der Kirche versteckten Juden wussten: Dr. Margarete Sommer, der Pfarrer Alfred Brinkmann und der Küster Robert Kaminski. Sie wurden unterstützt von Brinkmanns Kaplänen Kreutz, Rothkegel, Lange und einem evangelischen Sozialdemokraten. Die 1965 verstorbene Dr. Sommer erhielt übrigens 1953 das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse und wurde 2004 als „Gerechte unter den Völkern“ von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem geehrt.
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