Am 2. und 3. September 2010 fand in den niederländischen Städten Amersfoort und Middelburg die Konferenz „Redefining the Atlantikwall“ statt. Etwa 90 Historiker, Archäologen, Denkmalschützer, Museumspädagogen, Soziologen, Künstler und sonstige Interessierte hatten sich dafür eingefunden. Das Gros der Teilnehmer stammte aus den Niederlanden, es waren aber auch Belgier, Norweger, Italiener, Österreicher, Deutsche und Vertreter anderer Nationen anwesend. Die Vielfältigkeit der Teilnehmer sorgte für ein ungewöhnlich breites Spektrum an Ansichten, Vorgehensweisen und Perspektiven.
Monster aus Beton
Der Atlantikwall ist eine Festungslinie, die während des Zweiten Weltkrieges von den Nazis als Schutz vor einer alliierten Invasion an der Küste Frankreichs, der Niederlande, Belgiens, Deutschlands, Dänemarks, Norwegens und auf den Kanalinseln gebaut wurde. Er bestand primär aus Bunkern, befestigten Stellungen, Hindernissen und Minenfeldern. Neben der rein militärischen war vor allem die propagandistische Bedeutung des Atlantikwalls von großer Relevanz: Er sollte die Alliierten abschrecken und den Deutschen Siegeszuversicht einflößen. Sein Bau ging mit einer Ausplünderung der besetzten Länder, einer Vertreibung der örtlichen Bewohner, dem Einsatz von Zwangsarbeitern und großflächiger Naturzerstörung einher. Militärisch entpuppte sich das Monster aus Beton wiederum als Flopp: Die Invasion der Alliierten im Juni 1944 konnte er nicht stoppen. In der Nachkriegszeit wurden die Anlagen teilweise abgerissen oder ignoriert. Durch die Küstenerosion sind über die Jahrzehnte hinweg viele Anlagen im Sand bzw. Wasser versunken oder von den Klippen bzw. Dünen gestürzt. Das Ausmaß dieser Vorgänge ist noch nicht systematisch erfasst worden.
Der Atlantikwall – was tun?
Prinzipiell ging es auf dieser Konferenz nicht darum, Wege für einen angemessenen Umgang mit dem Atlantikwall zu finden – das hätte auch den Rahmen solch einer Veranstaltung gesprengt. Stattdessen sollte man eher von der „Schaffung eines Problembewusstseins“, einer „Skizzierung anstehender Aufgaben“ sowie einem „Aufzeigen erster Perspektiven“ sprechen. Dafür musste zuerst natürlich die militärische, architektonische und propagandistische Bedeutung dieses Bauwerkes dargelegt werden. Geert-Jan Mellink, der Hauptorganisator dieser Veranstaltung, verwies in seiner Einführung darauf, dass es bereits vor vier Jahren eine Konferenz zum Thema gegeben hatte, deren Fokus jedoch primär im historischen bzw. technischen Bereich lag. Bei dieser Konferenz wiederum wurde der Anspruch der Veranstalter folgendermaßen formuliert:
„With the passing of 65 years after the liberation we pose questions pertaining to the future significance of this large-scale complex as a heritage site within the historiography of the Second World War and its place as a memorial and commemorative landscape. We probe into the role the Atlantikwall may play in spatial planning ... and its role in generating recreational activities.“ Und: „This multi-disciplinary seminar will end the object-oriented fixation with the Atlantikwall, focusing instead on integrating its military, spatial, historical and socio-economic aspects.“
Stark vereinfacht ging es also um drei grundsätzliche Fragen: Was bedeutet der Atlantikwall heutzutage? Wie könnte er Bestandteil der europäischen Gedenkkultur werden? Welche grundsätzlichen Perspektiven gibt es für den Umgang mit den Festungsbauten?
Die Notwendigkeit solch einer Konferenz ergibt sich letzten Endes daraus, dass der Atlantikwall in den Niederlanden während der Nachkriegszeit über Jahrzehnte hinweg ignoriert bzw. abgerissen wurde. Denn er erinnerte die Bevölkerung an die Demütigung und an den Terror der NS-Herrschaft. Zugleich verwies er indirekt auch auf die Kollaboration, die beim Bau dieser Festungslinie teilweise zu beobachten war. In Ländern wie Dänemark oder Norwegen ließen sich in diesem Zusammenhang übrigens vergleichbare Verhaltensmuster feststellen. Auch heutzutage betrachten manche Niederländer den Atlantikwall noch als eine Art offene Wunde. Wie ein Teilnehmer es formulieren sollte: „We are not ready ...“
Girl Power am Atlantikwall
Mit der Anmerkung, dass der Atlantikwall mehr „Girl Power“ braucht, sorgte Geert-Jan Mellink für einen erfrischenden und ungewöhnlichen Auftakt der Konferenz. Leider ist das Thema „Bunker“ ja tatsächlich eine Männerdomäne – mit den entsprechenden, sich daraus ergebenden Einschränkungen. Jedenfalls konnte bei den folgenden Referaten reichlich „Girl Power“ beobachtet werden:
Nach einer Einführung von Dr. Ellen van der Waerden sprach Prof. Marieke Kuipers über den Atlantikwall als „Heritage of Tension“, gefolgt von der deutschen Bunker-Expertin Prof. Inge Marszolek, die über die militärische und propagandistische Funktion sowie die Gedenkkultur des Atlantikwalls referierte. Eine interessante Präsentation von Rose Tzalmona konnte leider nur verkürzt durch einen Vertreter vorgetragen werden, da die Referentin kurzfristig verhindert war. Anschließend wurden die aufgeworfenen Fragen in drei parallel verlaufenden Workshops vertieft. Für den Verfasser sollte sich der von Gennaro Postiglione (Politecnico di Milan) geleitete Workshop als ein Highlight der Konferenz erweisen. Abschließend präsentierte Steven van Schuppen die Website www.Atlantikwallplatform.eu, die ab Ende des Jahres als transeuropäisches Forum voll funktionsfähig sein soll.
Atlantikwall-Paten, norwegische Perspektiven ... und Bunker
Der vor Ort „Godfather of the Atlantikwall“ genannte Historiker Rudi Rolf eröffnete am nächsten Tag das Seminar mit einer Überblicksdarstellung der Befestigungslinie. Rolfs Ausführungen zeichneten sich durch ein umfangreiches technisches und militärhistorisches Wissen aus. Zugleich sind seine Einordnung des Atlantikwalls in die „normale“ europäische Festungsbautradition sowie die These, dass Zwangsarbeiter bei Bau der Befestigung nur marginal zum Einsatz kamen, laut Ansicht des Verfassers als eher problematisch zu betrachten. Ein konkretes Beispiel für den Umgang mit dem Atlantikwall zeigte sodann Janne Wilberg für Norwegen auf.
Das anschließende Referat Lenco van der Weels über die Schlacht an der Schelde diente als Auftakt für die folgende Exkursion zu den örtlichen Bunkern der „Landfront Vlissingen“. Mit einer Besichtigung des „Polderhuis“-Militärmuseums und einem Drink wurde die Konferenz dort beendet. Für alle Teilnehmer gab es auf der Veranstaltung in einer entspannten und zugleich anregenden Atmosphäre zahlreiche Möglichkeiten, sich auszutauschen und Kontakte zu knüpfen.
Umgang mit dem Atlantikwall – ein Minenfeld
Es ist kaum möglich, die auf der Konferenz thematisierten Probleme des Umganges mit dem Atlantikwall hier detailliert und mit Bezug auf die einzelnen Referate bzw. Workshops darzustellen. Stattdessen sollen die wichtigsten Fragestellungen folgend nur kurz aufgeführt werden:
1) Sind die betroffenen Länder politisch und gesellschaftlich reif genug für eine offene „Konfrontation mit dem Atlantikwall“?
2) Wie kann die örtliche Politik aktiv werden, wenn der Atlantikwall oft noch als Thema betrachtet wird, an dem man sich „die Finger verbrennen“ kann?
3) Ist die vom Beton des Atlantikwalls ausgehende Faszination größer als die Notwendigkeit, etwas für seinen Erhalt zu tun? Wie bedroht ist seine Substanz?
4) Ist der Atlantikwall so kolossal, dass jeder Versuch, ihn als Ganzes zu verstehen und zu thematisieren grundsätzlich scheitern muss?
5) Können die Bauten des Atlantikwall als Teil der architektonischen Moderne betrachtet werden? Und wäre somit eine Integration in den „kulturellen Mainstream“ denkbar?
6) Was ist angesichts der immensen Anzahl der Atlantikwall-Objekte schützenswert und was nicht?
7) Wie können die örtlichen Akteure in ein übergreifendes Konzept für den Umgang mit dem Atlantikwall eingebunden werden? Ist es prinzipiell möglich, das Gedenken als transeuropäisches Projekt zu gestalten?
8) Wie können die Initiativen und Interessen der verschiedenen örtlichen Akteure (z.B. Denkmalschützer, Ökologen, in der Touristik Arbeitende) miteinander koordiniert werden?
9) Wie können die historischen Erfahrungen aller vom Atlantikwall betroffenen Menschen ihren Eingang ins Gedenken finden?
10) Wie lassen sich kommerzielle Interessen und Gedenken miteinander vereinbaren?
11) Wie lässt sich die Notwendigkeit des Küstenschutzes mit dem Erhalt relevanter Anlagen vereinbaren?
12) Wo sind bei möglicherweise schutzwürdigen Bauten grundsätzlich die Prioritäten: Erhalt, Rekonstruktion oder Überformung?
13) Wie können Anlagen gesichert bzw. rekonstruiert werden, ohne die dort vorhandenen Ökosysteme zu gefährden?
14) Wie kann die öffentliche Sicherheit an den oftmals nicht richtig verschlossenen Anlagen gewährleistet werden?
15) Was passiert, wenn die Verbrechen des Nationalsozialismus eines Tages vergessen sein sollten – während die gewaltigen Betonbauten des Atlantikwalls immer noch stehen?
Ein hoffnungsloses Unterfangen?
Angesichts dieser zahlreichen ungelösten Probleme ist die Frage nach einem angemessenen Umgang mit dem Atlantikwall vielleicht hinfällig. Möglicherweise ist diese Festungslinie ganz einfach „ein paar Nummern zu groß“ dafür. Gleichzeitig bietet sie aber auch die Möglichkeit einer mehrere Länder umfassenden, identitätsstiftenden Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkrieges. Schließlich wird ja immer wieder darauf verwiesen, dass im Zeitalter der Europäischen Union die Ära der „nationalen“ Geschichtsschreibung längst überholt ist. Auf jeden Fall schienen sich fast alle Teilnehmer der Konferenz in einem Punkt einig zu sein: „Something has to be done!“
Ein paar Vorschläge ...
Wie könnten zukünftige Strategien für den Umgang mit dem Atlantikwall aussehen? Wo und wie fängt man an? Vielleicht wäre es hilfreich, wenn man zuerst als „Minimalkonsens“ mögliche grundsätzliche Prioritäten festlegt:
* Eine umfassende Bestandsaufnahme des Atlantikwalls
* Eine Einstufung des Erhaltungsgrades der einzelnen Objekte
* Eine Einschätzung der historischen Aussagekraft einzelner Objekte bzw. örtlicher Systeme
* Eine sich aus dem obigen Punkt ableitende Festlegung einer staatlich finanzierten Schutzwürdigkeit bestimmter Objekte. Weitere Objekte könnten durch örtliche, nichtstaatliche Initiativen betreut werden.
* Gründung eines aus Experten der betroffenen Länder bestehenden Kompetenzzentrums. Dieses Zentrum könnte z.B. örtliche Initiativen beraten. Zugleich könnte es die europäische Vernetzung einzelner Projekte vorantreiben und sich mit der pädagogischen Vermittlung der historischen Inhalte befassen.
* Erarbeitung wissenschaftlicher Standards, die als bindende Kriterien für staatlich finanzierte Projekte und als Unterstützung für nichtstaatliche Projekte dienen könnten.
Die Konferenz aus deutscher Sicht
Als deutscher Besucher war man am Anfang der Konferenz vielleicht etwas unsicher: Schließlich gehört man ja zur „Nation der Täter“! Aber diese Befangenheit löste sich angesichts des offenen, freundlichen und humorvollen Auftretens der holländischen Gastgeber recht schnell auf. Ein wenig überraschend war wiederum die Tatsache, dass ein Teil der Referenten bzw. Teilnehmer etwas „techniklastig“ war und sich dadurch hier und da das altbekannte Problem der Enthistorisierung von NS-Bunkern zeigte. Davon abgesehen kann diese Konferenz aber als ein voller Erfolg betrachtet werden. Obwohl es momentan nicht vorgesehen ist, wäre eine Nachbereitung der Konferenz in Form eines Sammelbandes sehr zu begrüßen. Zum Abschluss noch einen besonderen Dank an Geert-Jan Mellink und Nicolien Kipp für ihre Organisation sowie die umfassende und fürsorgliche Betreuung der Teilnehmer!
September 2010
Niko Rollmann