Berlin an einem kalten, feuchten Morgen im September. Diplom-Ingenieur Stefan Schwörer von der Uhrig Kanaltechnik GmbH führt kurz noch ein Gespräch auf seinem Handy. Dann schaut er auf seine Uhr und gibt unserem Team einen Wink: „Ich glaube, Sie können jetzt rein.“ Das erste Mitglied der kleinen Gruppe steigt langsam mit seiner Kamera in den Schacht hinein, der zur Kanalisation führt. Bevor er im Rohr verschwindet, grinst Herr Schwörer ihm noch schelmisch zu und sagt: „Ach ja, Sie wissen natürlich – Sie gehen da auf eigene Gefahr rein!“ Unser Photograph nickt und bemüht sich, seine Kamera und seinen Körper heil durch den engen, glitschigen Einstieg zu bringen. Jetzt bloß nicht abrutschen!
Ein paar Minuten später sind wir alle unten. Der Kanal ist eng, man kann sich nur gebückt und im Gänsemarsch fortbewegen. Die Wände sind mit einer schleimigen Schicht überzogen, die man nicht unbedingt berühren möchte. Aber zumindest gibt es keine Abwässer und keine unangenehmen Gerüche. Vor uns arbeiten drei Männer in der Röhre. Sie nehmen uns kaum zur Kenntnis, sie stehen unter Druck. In drei Stunden müssen sie fertig sein, dann erfolgt die Abnahme. Wortfetzen hallen durch den Kanal. Wir sehen uns fragend an. Wo ist denn jetzt „die Anlage“? Oder ... Moment mal, auf dem Boden des Kanals liegt ein Blech mit einer Rinne in der Mitte. Diese Installation zieht sich durch den ganzen Kanalabschnitt. Und an der Decke befinden sich ein paar Halterungen. Das war es dann anscheinend auch schon. Oder? Sollen wir die Monteure kurz ansprechen? Aber nein, sie sehen so aus, als wenn sie nicht gestört werden möchten. Unser Photograph bemüht sich, ein paar vernünftige Bilder zu machen ... und dann schnell wieder zurück an die Oberfläche!
Das unscheinbare Blech, das das „unter-berlin“-Team im Kanal begutachten konnte, ist eine neue, wegweisende Technik der Energiegewinnung, die in Kreuzberg ihre Berliner Premiere erlebt: Die Sporthalle an der Ecke Gneisenau- und Baerwaldstraße wird nun mit Abwärme aus der Kanalisation beheizt. Wie funktioniert das? Im Abwasser der Kanalisation herrscht permanent eine Temperatur von 10 bis 12 Grad. Sie kommt vom Spül- und Duschwasser, vom Kochen, aus Waschmaschinen, von der Industrie ... und aus dem menschlichen Körper. Normalerweise hat Wasser in dieser Tiefe nur eine Temperatur von sechs bis acht Grad. Die Abwärme der Kanalisation kann über Wärmetauscher (das erwähnte Blech, in der Fachsprache „Edelstahlelement mit Trockenwetterrinne“ genannt) aufgenommen, mit Wärmepumpen auf etwa 70 Grad gebracht und dann zum Heizen verwendet werden. Es handelt sich also um ein direktes Verfahren – die Wärme wird nicht erst in Strom umgewandelt. Als Voraussetzung muss in den Kanälen eine Abwassermenge von mindestens 15 Litern pro Sekunde bei trockenem Wetter fließen; der Leitungsdurchmesser muss wenigstens 80 Zentimeter betragen. Die Berliner Anlage ist 33 Meter lang und deckt den Bedarf der Sporthallenheizung zu etwa 75 Prozent (bei großer Kälte springt zusätzlich noch eine Gasheizung an). Bundesweit gibt es erst vier Anlagen dieser Art. Das Verfahren kam zuerst 1982 bei Basel zum Einsatz. Eine weitere Anlage folgte 1989 in der Nähe von Oslo. Die Abwässer der Kanalisation können während des Sommers übrigens auch zur Kühlung von Gebäuden verwendet werden: 10 bis 12 Grad sind dann ja angenehm kalt!
Das Berliner Projekt entstand im Auftrag des Stromlieferanten Vattenfall und wurde vom Ingenieurbüro ECO.S Energieconsulting konzipiert. Für den Bau war der Betrieb Henning und Quade als Generalunternehmer zuständig. Neben den Tiefbauarbeiten erledigte er die Kernbohrungen der Rohrdurchführungen und das nachträgliche Abdichten des Kanals. Die Firma Uhrig Kanaltechnik GmbH wiederum installierte die „Therm-Liner“, die die Abwärme aufnehmen, und verband sie mit den bestehenden PE-Versorgungsrohren. Ein weiteres Unternehmen führte die restlichen, kleineren Aufgaben durch. Außer Uhrig gibt es momentan übrigens nur eine andere Firma, die das Verfahren der Energiegewinnung aus Kanalisationsabwärme beherrscht, nämlich die Schweizer Rabtherm AG.
Der Therm-Liner der Firma Uhrig hat den Vorteil, dass er ohne größere Baumaßnahmen in bereits vorhandene Kanalisationskanäle eingefügt werden kann. Denn in Deutschland sind diese oft etwas überdimensioniert angelegt worden, sodass es im Kanal genügend Platz gibt. Ein zusätzlicher Vorteil ist dabei, dass durch die Verengung des Kanals die Fließgeschwindigkeit des Abwassers erhöht wird. So bilden sich weniger Ablagerungen und die Energieausbeute ist größer. Die Wartung erfolgt viermal pro Jahr bei laufendem Betrieb. Dabei werden die Oberflächen der Therm-Liner mit Spülgeräten maschinell von Ablagerungen befreit – dafür muss niemand in die Kanalisation hinabsteigen. Zugleich müssen aber noch einige „Kinderkrankheiten“ auskuriert werden. So sind zum Beispiel die Materialkosten relativ hoch, da für die Anlagen Edelstahl benötigt wird.
Wie groß ist das Potential dieser neuen Energiequelle? Stefan Schwörer geht davon aus, dass rein rechnerisch etwa 5000 Anlagen dieser Art in Deutschland gebaut werden könnten. Zusammen würden sie die Leistung von zwei Kernkraftwerken erbringen. Gleichzeitig räumt er ein, dass es dabei natürlich auch Probleme gibt. Die Betreiber der Kanalisation sind mitunter skeptisch, sie verweisen auf die Kapazitätsverringerung, die in den Kanälen durch den Einbau der Anlagen auftritt. Dies könnte bei schweren Regenfällen zu Problemen führen. Technisch gesehen dürfen die zu beheizenden Objekte beim Therm-Liner-System zudem nicht weiter als 300 Meter vom entsprechenden Abwasserkanal entfernt sein. Und die Nutzer müssen eine Wärmepumpe installieren.
Heutzutage ist das Verfahren bereits in der BRD, Frankreich, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz und Norwegen im Einsatz. Dabei muss es übrigens nicht immer die Kanalisation sein, aus der die Wärme gewonnen wird: Auch das etwa 10 Grad warme Wasser aus Kläranlagen eignet sich für solche Zwecke und wird zum Beispiel im süddeutschen Waiblingen entsprechend verwendet. Müsste diese Technik nicht gerade für die energiebedürftigen Länder der industrialisierenden Dritten Welt attraktiv sein? Nun, bis jetzt hat es aus solchen Staaten noch keine Aufträge gegeben. Dort ist offenbar der Hunger nach Energieträgern größer als der Appetit auf Einsparungen. Angesichts der Knappheit an Öl, Kohle und Erdgas könnte sich dies aber bald ändern. Darüber hinaus ist eine sehr positive „Nebenwirkung“ der neuen Technik eine deutliche Reduktion der Kohlendioxid-Emissionen!
Weiterführende Informationen:
Allgemein: www.eco-s.net/abwasserwaerme.html
Henning und Quade: www.hundq.de
Uhrig Kanaltechnik GmbH: www.uhrig-bau.de
ECO.S Energieconsulting: www.eco-s.net
November 2006