Gisela Jacobius und ihre Eltern gehörten zu den Berliner Juden, die sich dem Zugriff der Nazis durch eine Flucht in den Untergrund entzogen. Das Leben dieser „U-Boote“ genannten Menschen war äußerst anstrengend und gefährlich. In einem Gespräch mit „unter-berlin“ berichtete Frau Jacobius offen und anschaulich von ihren Erfahrungen:
unter-berlin: Frau Jacobius, Sie wurden 1923 geboren. Als Sie noch nicht einmal 10 Jahre alt waren, kamen 1933 die Nazis an die Macht. Hat man damals schon – so weit das für Sie als Kind möglich war – die Tragweite dieses Machtwechsels erfassen können?
Gisela Jacobius: Als Kind natürlich nicht. Auch noch nicht, als ich im selben Jahr in das Viktoria-Oberlyzeum in der Prinzenstraße umgeschult werden sollte und der Rektor meiner Mutter gesagt hat, dass dort keine jüdischen Kinder mehr aufgenommen werden durften. Ich musste dann auf die Jüdische Mittelschule in der Großen Hamburger Straße gehen.
unter-berlin: Ihre Eltern werden die einsetzenden Repressionen sicher deutlicher gespürt haben. Haben Ihre Eltern damals besorgt gewirkt? Und ab wann konnte man als Jude spüren, dass die Situation sich immer weiter verschlechterte?
Gisela Jacobius: Das kam eigentlich erst im Laufe der Zeit. Man hat ja diese Tragweite der Brutalität gar nicht wahrnehmen und erfassen können. Natürlich sagen manche Leute: „Ja, wenn Ihr Hitlers „Mein Kampf“ gelesen hättet … da stand doch alles drin.“ Aber wir haben es damals nicht gelesen und auch nicht für möglich gehalten, was für Ausmaße das alles annehmen würde. Im Laufe der Zeit dachte man dann natürlich peu á peu an Auswanderung. Aber am Anfang, 1933, haben wir das alles noch nicht für möglich gehalten.
unter-berlin: Wenn man mit jüdischen Deutschen Ihrer Generation und Ihres Hintergrundes spricht, hat man oft den Eindruck, dass sie recht patriotisch und konservativ eingestellt waren. Und dass sie dachten: „Deutschland ist ein zivilisiertes Land, in dem Recht und Ordnung herrscht. Trotz dieses Hitlers kann uns hier nicht viel passieren.“
Gisela Jacobius: Genau. Zumal mein Stiefvater im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft hat. Er hat auch eine Auszeichnung bekommen. Wir waren absolut preußisch, deutsch. Man hat uns dann zwar das Deutschtum abgesprochen, aber … wenn mich heute jemand fragt: Ich bin Deutsche! Ich habe die jüdische Religion, aber ich bin Deutsche! Das ist eben der Fehler, den viele Leute machen, wenn sie zum Beispiel sagen: „Ja, Eure Außenministerin …“ Was für eine Außenministerin? Die verwechseln das mit Israel und glauben, dass jeder jüdische Mensch mit Israel verbrüdert sein muss. Das stimmt alles gar nicht.
unter-berlin: Sie empfanden sich also als Deutsche. Aber irgendwann kam dann doch der Punkt, vielleicht nach der „Reichskristallnacht“ 1938, als die Dinge plötzlich „umkippten“, als klar wurde, dass da etwas sehr Bedrohliches auf die Juden zukam. Gab es für Sie persönlich einen spezifischen Wendepunkt?
Gisela Jacobius: Ja, als es Freunde meiner Eltern traf … der Mann war Russe oder Pole und wurde in ein Lager abtransportiert. Und gerade in dieser Woche sollte sein jüngster Sohn Bar Mitzwa feiern [jüdisches Initiationsritual]. Mein Stiefvater hat den Jungen dann an Stelle seines Vaters begleitet. Das hat sich bis heute bei mir eingeprägt. Solche Situationen vergisst man nicht.
unter-berlin: Der Mann wurde einfach so abgeholt?
Gisela Jacobius: Nach 1938 sind ja viele abgeholt worden. Auch der Vater von Horst Prentki [ein Bekannter der Familie] wurde abgeholt. Der kam aber nach sechs Wochen wieder zurück. Das waren die ersten Abholungen, die noch so erfolgten, dass die Männer noch mal nach Hause kamen. Aber der Freund meines Stiefvaters ist nicht mehr nach Hause gekommen, der ist gleich nach Warschau transportiert worden. Der war eben Russe oder Pole und da haben die Nazis gleich mächtig „aufgeräumt“.
unter-berlin: Es gibt ein Buch namens „Stella“, in dem das Leben von Stella Goldschlag beschrieben wird, die als jüdischer „Greifer“ den Nazis half, im Untergrund versteckte Juden aufzuspüren. In dem Text wird sehr anschaulich beschrieben, wie das Leben für die Juden immer schwieriger und der Druck immer größer wurde … bis vielen Juden dann langsam dämmerte: Die wollen uns ans Leben! Plötzlich tauchte da eine existenzielle Angst auf, als klar wurde, dass die Nazis ihre Rassenideologie bis zur letzten Konsequenz in die Tat umsetzen wollten. Hatten Sie eines Tages auch das Gefühl, dass man Sie vielleicht töten wollte?
Gisela Jacobius: Nein, das Gefühl hatte ich nicht. Ich war ja damals, 1938, erst 15 Jahre alt und bei meinen Eltern wurde – zumindest in meiner Gegenwart – über solche Dinge nicht gesprochen. Allerdings mussten meine Eltern 1938 dann ihr Geschäft aufgeben [aufgrund entsprechender Gesetze, die jüdische Unternehmen „arisierten“ bzw. liquidierten]. Und dann kamen laufend neue Verfügungen, sodass wir von einer Aufregung in die andere gefallen sind … man konnte sich kaum noch beruhigen. Und dann wollte man auswandern, was auch nicht einfach war. Denn man durfte ja nur eine bestimmte Summe Geld mitnehmen. Und dann hieß es, dass man nur 10 Reichsmark bei sich haben durfte. Und welches Land nimmt gerne so arme Schlucker auf? Für mich kam der entscheidende Punkt, als man mich aus der Schule rausgenommen hat. Ich habe auf der Mittelschule also nicht mit 16 den Abschluss als „Einjährige“ absolviert, sondern bin ein Jahr früher gegangen. Ich ging dann seit März 1939 auf eine jüdische Modeschule. Man hatte nämlich gesagt, dass es wichtig wäre, dass junge Juden sich im Ausland handwerklich ernähren könnten. Auf der Modeschule in der Alexanderstraße habe ich Schneidern gelernt … wenngleich nicht mit großem Erfolg. Ich war auch nicht sehr begeistert davon. In der Modeschule war übrigens auch Stella Goldschlag. Darum musste ich später in der Illegalität immer fürchten, dass ich ihr begegne! Und dann mussten wir umziehen – die Schule wurde aufgelöst, von der Jüdischen Gemeinde übernommen und kam in die Nürnberger Straße 66.
unter-berlin: Und wie ging es dann weiter?
Gisela Jacobius: Ich war an der Modeschule bis zum 30. April 1941. Danach wurden wir alle zur Zwangsarbeit vermittelt. Ich kam in eine Einlegesohlenfabrik, weil ich ja auf einer handwerklichen Schneiderei gewesen war. Das war ein kleinerer Betrieb … und auch ein humanerer Betrieb. Wir wurden nicht schlecht behandelt … korrekt. Man ist korrekt behandelt worden. Nur der Meister war ein scharfer Nazi, aber er war nicht bösartig. Wenn die Maschine nicht funktionierte, dann ist er auch zu uns jüdischen Arbeiterinnen gekommen – wir waren drei Näherinnen – und hat das repariert. Aber wir mussten uns vom Stanzer die vorgefertigten Einlegesohlenstapel selbst holen und zu unseren Maschinen tragen, während der Stanzer den christlichen, deutschen Näherinnen die Sohlen an die Maschine gebracht hat. Das waren so diese kleinen „Strafen“, die man als Jude bekam. Aber wenn der Meister beschäftigt oder nicht da war, dann hat der Stanzer ganz schnell einen Stapel Sohlen genommen und sie uns hingebracht. Und dann hat er uns auch nach Möglichkeit Dameneinlegesohlen gebracht. Die gingen nämlich schneller durch die Maschine. Und je mehr Einlegesohlen man geschafft hat, desto mehr Geld hat man auch bekommen.
unter-berlin: Sie fingen in der Schneiderschule ja mit dem Gedanken an die Auswanderung an. Später mussten Sie bereits Zwangsarbeit leisten. Und ab Oktober 1941 wurde schließlich die Emigration untersagt …
Gisela Jacobius: Ab dem 23. Oktober exakt! Denn am 25. Oktober habe ich das Visum für Kuba in den Pass gestempelt bekommen. Und ich sollte noch vor meinem 18. Geburtstag aus Deutschland raus sein. Denn es war schon vorher eine Zeit lang so gewesen, dass jüdische Menschen nur noch bis zum Alter von 18 Jahren Deutschland verlassen konnten. Und am 2. November 1941 wäre ich 18 geworden. Und es klappte dann nicht mehr mit der Emigration nach Kuba, da eben eine Woche vorher der Erlass rauskam, dass keine Juden mehr raus durften. Mein Gepäck war schon weg … aber ich war noch da! Ich war auch schon aus der Einlegesohlen-Firma raus. Ich hatte schon alle Unterlagen zusammen und die Details geplant, das wurde alles vom jüdischen Hilfsverein organisiert … naja, ich war eben noch da.
unter-berlin: Haben Sie das Gefühl gehabt, in der Falle zu sitzen?
Gisela Jacobius (nach einer Pause): Die Abholungen waren da wohl gerade erst angelaufen, das war noch nicht so publik. Und ich habe dann nur gesagt, die Nazis haben wohl Angst, dass wir im Ausland über diese Abholungen berichten könnten. Und darum hätten sie dafür gesorgt, dass keiner mehr raus kann.
unter-berlin: Wusste man denn, was mit den Leuten geschah, die abtransportiert wurden?
Gisela Jacobius: Zu Anfang nicht. Das sickerte ja erst später durch.
unter-berlin: Ihre Eltern fassten dann ja den Entschluss, mit Ihnen in den Untergrund zu gehen. Wissen Sie, wann diese Entscheidung getroffen wurde und wie lange Ihre Eltern die illegale Existenz dementsprechend vorbereitet haben?
Gisela Jacobius: Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass meine Eltern mit einem Geschäftsfreund vereinbart haben, dass er das Recht hätte, bei einem Abtransport unserer Möbel durch die Nazis Anspruch auf diese Güter zu erheben. Ob das sinnvoll war, weiß ich nicht. Und meine Eltern müssen auch mit früheren Geschäftspartnern gesprochen haben, weil die uns ja bestärkt und gesagt haben: „Lasst Euch nicht abschlachten! Versteckt Euch, wir helfen Euch.“ Das muss ja eine gewisse Vorlaufzeit gehabt haben … denn man geht ja nicht einfach so hinaus. Man musste ja eine gewisse Absicherung haben … wo man sich hinwenden konnte, wenn man was zu essen haben wollte und so weiter.
unter-berlin: Wann haben Ihre Eltern Ihnen mitgeteilt, dass Sie in den Untergrund gehen würden? Haben Sie vorher bereits etwas geahnt?
Gisela Jacobius: Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass wir an einem Sonnabend vormittags noch in der Fabrik gearbeitet haben. Und ich glaube, dass wir zu Hause dann Erbsensuppe gegessen haben und dann die Wohnung verließen.
unter-berlin: Im Januar 1943 tauchten Sie also ab. Sicher ein riesiger Schritt, oder?
Gisela Jacobius: Ja. Bei der Präsentation meines Buches [siehe Literaturhinweis unten] wurde ich gefragt, was das schlimmste Ereignis gewesen wäre, an das ich mich erinnern könnte. Da habe ich ganz spontan gesagt: Der Moment, wo die Wohnungstür hinter uns zugegangen ist. Wir standen draußen, hatten kein Zuhause mehr und waren in gewissem Sinne vogelfrei. Wir waren nicht mehr existenzberechtigt. Der Lebensfaden war abgeschnitten. Und ich bin der Ansicht, dass meine Eltern das noch brutaler empfanden als ich … obwohl es mir auch schon schmerzlich genug war, von der Gunst fremder Menschen abhängig zu sein. Und ich habe da auch einige unangenehme Erfahrungen gemacht …
unter-berlin: Und sicher war das alles mit einem immensen Aufwand verbunden …
Gisela Jacobius: Natürlich! Denn es hört sich so leicht an: „Ja, wir haben versteckt gelebt.“ Was aber dahinter steckt, mit welchen Schwierigkeiten man konfrontiert wurde und wie man sich immer mit Anstand und bescheiden aus der Affäre ziehen musste, das berücksichtigt keiner mehr. Das heißt es eben nur: „Die haben versteckt gelebt.“ Damit ist praktisch ein Zustand geschildert, über den man nicht weiter nachzudenken braucht. Aber was bedeutet das im Einzelnen? Unsere Helfer haben erwartet, dass wir auch eine Gegenleistung erbringen. Und als neunzehnjähriges Mädel war ich natürlich noch nicht so erfahren, um in einer Pension aktiv Arbeit leisten zu können. Meine erste Station im Untergrund war nämlich in Bad Saarow-Pieskow [südlich von Fürstenwalde]. In Berlin hatten die Leute bei uns im Haus ein Radiogeschäft, ich war mit der Tochter befreundet und wir gingen in die selbe Klasse. Und die hatten da draußen eine Art Landhaus gekauft, wo sie mich aufnahmen. In dem Landhaus haben sie Zimmer für Gäste zur Verfügung gestellt. Aber ich habe den Besitzern nicht genug geleistet. Wir haben dann Kontakt zu meiner Mutter aufgenommen. Sie hat das an meiner Stelle übernommen und ich musste woanders hin. Also, das war nicht so einfach. An einer anderen Stelle, wo ich war, wurde der Hausherr zudringlich. Ja, ich hätte ja den Mund zu halten gehabt. Aber er ist auf eisernen Widerstand gestoßen. Ich konnte und wollte ihm nicht zu Willen sein … denn seine Frau hat mir Essen gegeben. Also, das war fürchterlich, und sein Verhalten mir gegenüber wurde dann auch entsprechend schroffer und garstiger, sodass ich sehen musste, dass ich von dort schnell weg kam.
unter-berlin: Haben Sie sich am Anfang eigentlich gefragt, wie lange Sie im Untergrund bleiben müssten?
Gisela Jacobius: Ja, wir haben mit drei oder vier Monaten gerechnet, maximal. Hätten wir gewusst, dass das über zwei Jahre geht … ich glaube nicht, dass meine Eltern dann den Mut dazu gehabt hätten. Zumal sie ja immer noch geglaubt haben, der Papa käme als ehemaliger Frontkämpfer nach Theresienstadt, das war ja mehr oder weniger so eine Art Musterlager.
unter-berlin: Als Sie im Januar 1943 untertauchten, zeichnete sich ja bereits die deutsche Niederlage in Stalingrad sehr deutlich ab. Haben Ihre Eltern somit vielleicht angenommen, das NS-Regime würde nun schnell militärisch zusammenbrechen?
Gisela Jacobius: Ja … man hat ja auch die „feindlichen“ Sender gehört und wir haben es mit Innbrunst aufgenommen, wenn die sagten, die deutschen Truppen sind wieder zurückgeschlagen worden und die Russen sind im Vormarsch … dann waren wir immer ganz euphorisch und haben uns gesagt: „Das kann ja nicht mehr lange dauern.“ Und die haben uns natürlich auch Mut gemacht mit ihren Durchsagen, daran haben wir uns geklammert.
unter-berlin: Aber es war dann ja trotzdem ein langer Aufenthalt im Untergrund. Können Sie schätzen, wie viele Menschen Ihnen dabei geholfen haben?
Frau Jacobius holt eine Liste der Orte hervor, an denen sie sich damals versteckt hat.
unter-berlin: Auf dieser Liste stehen acht verschiedene Orte. Und darüber hinaus mussten Sie natürlich auch mit Lebensmitteln versorgt werden. Wie funktionierte das alles?
Gisela Jacobius: Meine Mutter hatte mehr oder weniger alle Fäden in der Hand und kümmerte sich um die Dinge. Und mein Aufenthalt war eigentlich immer mit Beköstigung verbunden. Meine Mutter hat höchstens mal zwischendurch etwas gebracht, um die Menschen, bei denen ich versteckt wurde, zu entlasten.
unter-berlin: Wenn man sich die Liste Ihrer Verstecke anschaut, so waren es fast alles Orte in Berlin beziehungsweise im Berliner Umland. Hat es trotz der Fähigkeiten Ihrer Mutter nicht eine bedeutende Logistik erfordert, Sie und Ihre Eltern zu verstecken, zu versorgen und gleichzeitig den Kontakt aufrecht zu erhalten?
Gisela Jacobius: Ich wusste zum Teil nicht, wo meine Eltern sind. Das hat man mir bewusst nicht gesagt … für den Fall, dass man in eine Razzia gerät und geschnappt wird, dass man mich nicht durch Folter zwingen kann, etwas zu sagen, was ich nicht sagen will.
unter-berlin: Und zweimal sind Sie ja tatsächlich in eine Kontrolle geraten. Was passierte da genau?
Gisela Jacobius: Beim ersten Mal hatte ich eine Milchkanne dabei und fuhr mit dem Fahrrad von einem Ort zum anderen. Eines von Brückners Enkelkindern [Familie Brückner versteckte sie zu diesem Zeitpunkt] saß hinten auf dem Gepäckträger. Und dann wurden wir von „Kettenhunden“ [einer Art Feldpolizei der Wehrmacht] angehalten: „Halt! Bitte Ihren Ausweis!“ Da habe ich ganz kess gesagt: „Na, Sie haben mir gerade jetzt noch gefehlt! Ich habe meinen Kopf mit ganz anderen Dingen voll und Sie fragen nach dem Ausweis. Den habe ich nicht bei mir.“ Da guckt er mich ganz verduzt an und sagt: „Wieso, Sie wissen doch, dass Sie den Ausweis bei sich haben müssen!“ Da sage ich: „Naja, ich bin jetzt mit dem Kind Milch holen gefahren in den Nachbarort … und habe mir nichts dabei gedacht. Dachte doch nicht, dass ich jetzt den Ausweis hier bei mir haben müsste.“ „Natürlich müssen Sie einen Ausweis bei sich haben!“ Also, das ging einige Male hin und her und dann sagte ich: „Naja, also gut, Sie sagen, ich muss ihn dabei haben, dann werde ich das nächste Mal den Ausweis mitnehmen … aber ich habe ihn nun mal nicht dabei.“ Also, ganz nassforsch habe ich mich da aus der Affäre gezogen. Beim zweiten Mal musste ich von Strausberg mit dem Postauto nach Möllensee fahren. Da waren vielleicht noch acht oder zehn Leute mit drin. Das Auto wurde angehalten und kontrolliert. Ich hatte einen Mantel an … und dann tue ich so, als ob ich in der Tasche suche und sage dann: „Ach Du lieber Himmel, jetzt habe ich den Ausweis nicht dabei! War heute nacht im Keller [Luftschutzkeller], hatte etwas anderes an … ich habe den Ausweis im anderen Mantel.“ Ich hatte ja wirklich keinen Ausweis! Da sagte der: „Das geht doch nicht, Sie müssen doch einen Ausweis bei sich haben!“ Dann sagte ich: „Es tut mir furchtbar leid, aber man ist schon ganz durcheinander mit diesen Alarmen [Luftangriffen]!“ „Naja, das nächste Mal nehmen sie aber den Ausweis mit!“
unter-berlin: Sicher hat es in diesen Situationen geholfen, dass Sie ein junges, etwas „arisch“ aussehendes Mädchen waren …
Gisela Jacobius: Als junges Mädel hat man sowieso mehr Chancen bei jungen Männern. Das liegt in der Natur der Dinge, dass der junge Mann bei einem jungen Mädel „Gnade vor Recht“ ergehen lässt.
unter-berlin: In diesem Zusammenhang stellt sich vielleicht die Frage, was die erfolgreichen „U-Boote“ generell von denjenigen unterscheidet, die irgendwann gefasst wurden. Manche Historiker sagen, dass vor allem diejenigen Glück hatten, die im Denken sehr schnell und schlagfertig waren und sich durch eine gewisse Chuzpe auszeichneten. Und die vor allem den Nazis hinsichtlich ihrer Intelligenz überlegen waren. Können Sie dem zustimmen?
Gisela Jacobius: „Überlegen“ möchte ich nicht sagen, denn ich habe in diesen Situationen natürlich ganz schön gezittert. Das war eigentlich „todesmutig“, so möchte ich das mal nennen.
unter-berlin: Aber Sie haben sich diese Angst offenbar nicht anmerken lassen. Dafür muss man ja auch schauspielerische Fähigkeiten haben.
Gisela Jacobius: Irgendwas muss da gewesen sein, aber ich kann es heute nicht mehr definieren. Jedenfalls … ich bin durchgekommen, ich habe es geschafft. Einen Unterschied gegenüber denen, die es leider nicht geschafft haben, kann ich gar nicht so feststellen. Ich weiß es nicht.
unter-berlin: Vielleicht eine größere psychische Widerstandsfähigkeit? Es muss doch zum Beispiel ungeheuer schwierig gewesen sein, mit dieser permanenten Todesangst umzugehen.
Gisela Jacobius: Ja, ich war Gott sei Dank lange in Möllensee bei Familie Brückner. Und wenn es Luftangriffe gab, konnten wir von dort aus sehen, wie britische Bomber die so genannten „Weihnachtsbäume“ abgeworfen haben, die markieren sollten, wo das folgende Geschwader die Bomben abwerfen sollte. Und dann konnte man natürlich auch den roten Feuerschein sehen, wenn Berlin gebrannt hat. Und man sah auch die Scheinwerfer der Flak, die sich überkreuzten … und wie sie dann oben am Himmel agierten. Man konnte das alles sehen, ohne Angst vor den Bomben haben zu müssen. Wir waren ein bisschen sicherer in Möllensee.
unter-berlin: Und das hat Ihnen vielleicht den Mut gegeben, Ihre Situation durchzustehen … dass man anhand dieser Bombenangriffe sehen konnte, dass die Nazis den Krieg verlieren würden.
Gisela Jacobius: Das haben wir gehofft. Es gab damals einen großen Unterschied im Denken zwischen der deutschen Bevölkerung und uns versteckt lebenden Juden. Jede Bombe hat zwar Menschenleben vernichtet und Sachschaden angerichtet, so traurig das auch sein mag, aber für uns war es nicht traurig, für uns brachte es das Kriegsende ein Stück näher. Jede Bombe, die fiel, war für uns von Nutzen. Und das ich natürlich nicht traurig war über Nazis, die umgekommen sind, das darf man mir wohl nicht verübeln. Natürlich war es furchtbar, dass die Menschen durch die Bomben umkamen. Aber was haben die Nazis Furchtbares gemacht, was haben sie getan, und ohne Helfershelfer wäre es ja nicht möglich gewesen. Das hört sich zwar sehr brutal an, aber ich hoffe, dass man das richtig verstehen kann.
unter-berlin: Sind Sie während dieser Zeit auf der Straße mal einer Person begegnet, die ebenfalls ein „U-Boot“ war oder vielleicht eines gewesen sein könnte?
Gisela Jacobius: So viel war ich nicht auf der Straße. Und wenn ich auf der Straße sein musste, dann nach Möglichkeit abends in der Dunkelheit. Es herrschte wegen der Luftangriffe ja Verdunkelung. Die Gefahr, erkannt zu werden, war dann nicht so groß.
unter-berlin: Und hatten Sie jemals Erlebnisse mit „Greifern“ wie Stella Goldschlag?
Gisela Jacobius: Nein. Das Einzige, was mir fürchterlich im Gedächtnis haften geblieben ist … ich weiß nicht, warum ich abends im Dunkeln in der Oranienburger Straße war, was ich da zu tun hatte, was ich da gesucht habe [diese Straße war eines der Zentren des jüdischen Berlins – zu jener Zeit für Juden ein äußerst gefährlicher Ort!]. Ich weiß nur, dass ich in die Große Hamburger Straße reingucken konnte. Und auf der Höhe der ersten Etage der Schule, die ja als Sammellager für Juden missbraucht wurde, waren Scheinwerfer, die rüber bis zum Erdboden auf der anderen Straßenseite leuchteten. Die haben also die Straße ausgeleuchtet, damit keiner davonlaufen konnte oder so. Das habe ich gesehen und das ist mir in Erinnerung geblieben.
unter-berlin: Ab wann waren Sie sich sicher, dass die Nazis den Krieg verloren hatten?
Gisela Jacobius: Naja, im Januar ’45, als die ganzen Trecks aus Schlesien und von Bromberg und anderen Orten kamen … dann bin ich sogar mit meiner Mutter zum Amt gegangen, wo wir uns als Flüchtlinge ausgaben, um Lebensmittelkarten zu bekommen. Und die fragten dann: „War es schlimm?“ oder so was. Meine Mutter hat immer nur gesagt: „Fragen Sie nicht, fragen Sie nicht!“ Da haben wir dann Lebensmittelkarten bekommen. Das war schon der Auflösungsprozess.
unter-berlin: Haben Sie während Ihrer Zeit im Untergrund jemals den Gedanken gehabt, dass Sie es nicht schaffen könnten?
Gisela Jacobius (nach einer kurzen Pause): Ich glaube nicht. Gewusst hat man es nie. Mein Vater ist eine Zeit lang mit auf einem Kahn herumgeschippert. Man hat gehofft, dass es dort keine Razzien geben könnte. Und meine Mutter hat zeitweilig auch mal bei einer Ärztin im Untersuchungszimmer auf der Liege geschlafen. Sie musste aber am nächsten Morgen immer um sechs Uhr raus sein, weil dann das Reinigungspersonal kam. Die durften ja nicht wissen, dass da jemand geschlafen hatte. Das war in der Alexandrinenstraße.
unter-berlin: Was die Menschen betrifft, die Ihnen damals geholfen haben: Sie erzählen, dass diese Personen auch Gegenleistungen verlangten und ein Mann sogar zudringlich wurde. Man hat den Eindruck, dass das nicht immer Altruisten waren …
Gisela Jacobius: Ja, ich meine … die Zeit musste ja auch irgendwie ausgefüllt werden. Ich konnte ja nicht nur sitzen und Däumchen drehen. In Möllensee habe ich den alten, stark an Verkalkung leidenden Herrn Brückner betreut … und in Bad Saarow-Pieskow wurde erwartet, dass ich hilfreich zur Hand gehe. Aber ich habe zu Hause ja auch Staub gewischt …
unter-berlin: Dieses Gefühl der Abhängigkeit, war das sehr schwierig?
Gisela Jacobius: Ja, man musste immer … ein gewisses „unterwürfig sein“. Man hing ja von der Gnade und Lust und Laune der Leute ab.
unter-berlin: Das war sicher demütigend, oder?
Gisela Jacobius: Sehr demütigend. Gott sei Dank hilft aber das Jungsein, über diese Dinge leichter hinweg zu kommen. Wenn man reifer und älter ist, dann ist man für solche Dinge feinnerviger.
unter-berlin: Am Ende sind Sie dann ja noch bei der Schwedischen Gemeinde untergekommen …
Gisela Jacobius (liest aus einem handgeschriebenen Text vor, den Ihr Vater nach dem Krieg verfasst hat): „In den Jahren des verbrecherischen, religionsfeindlichen Hitlerregimes hat die Schwedische Kirche zu Berlin auch viele rassisch Verfolgte finanziell, durch Lebensmittel, vereinzelt auch durch Unterkunft unterstützt. Die Güte der amtierenden Pfarrer tat das Ihrige zur seelischen Aufrichtung der Gehetzten, Darbenden, Unglücklichen. Im August 1943 erfuhr ich davon.“ Das ist der so genannte „Mundfunk“, wie man es damals nannte. Mein Vater wandte sich dann an Pfarrer Perwe und erlangte bei diesem eine bescheidene finanzielle Unterstützung für unsere Familie. Er hat durch den Pfarrer auch Unterstützung seelischer Art bekommen. „Als wir die Kirche, mit der wir uns in Liebe und Dankbarkeit verbunden fühlten, stark durch Bombenschäden gelitten, und der Aufräumungs- und Aufbaukräfte bedürftig sahen, boten wir unsere Hilfe an. Wir waren glücklich, dass Herr Pfarrer Perwe diese annahm.“ Was da also an Aufräumungsarbeiten anfiel, da durfte mein Vater dann mithelfen. „Wir Familienmitglieder hausten getrennt in den verschiedensten Unterkünften. Im Laufe der Zeit waren wir jedoch durch wiederholte Ausbombungen und Gestapoverfolgung auf eine gemeinschaftliche letzte Unterkunft zusammengedrängt. Während der Kampftage um Berlin und der ständigen Luftangriffe ohne Alarm war unsere Bedrängnis so groß geworden, dass wir illegal verborgen Lebenden nicht mehr wussten, wohin. Unsere Nerven waren am Ende ihrer Kraft. In Erkenntnis dessen bot uns Herr Pfarrer Myrgren [der Nachfolger von Pfarrer Perwe, dessen Flugzeug auf dem Weg nach Schweden abgeschossen worden war], der mit seinem kleinen Stabe nach dem Gesandschaftsbunker gesiedelt war, an, im Luftschutzkeller der Kirche Zuflucht zu nehmen. Am 24. April 1945 abends machten wir davon Gebrauch. Wir nahmen an, dass die Kirche vor den kämpfenden Truppen und Flugzeugen geschützt sei, zumal sie durch sehr große und einer großen Anzahl kleinerer schwedischer Flaggen sichtbar kenntlich gemacht war. Außerdem hatte ich eine große schwarze Schultafel an den Eingängen Landhausstraße und Kaiserallee aufgestellt, mit großen Aufschriften in deutsch und russischer Schrift: „Dieses Grundstück ist Eigentum der Schwedischen Gesandschaft. Zutritt verboten!“ Das hinderte jedoch eine deutsche Granatwerferabteilung nicht, ihre Geschütze auf dem Kirchengrundstück einzubauen und von dort aus zu kämpfen. Meine persönliche Intervention bei dem Kommandoführer wurde mit den Worten abgetan: „Das ist egal!“ Wahrend der Kämpfe krachten durch das Haus und auf das Haus etwa 40 bis 50 Artilleriegeschosse. An einem Tage wurde die Kirche von drei, an einem anderen Tage von zwei Flugzeugbomben getroffen. Als Folge davon wurde am 25. April vormittags eine Frau Wolf, die am 24. April zum Besuch in der Kirche weilte und wegen des Beschusses abends nicht mehr weiter konnte, tödlich getroffen. Ein ebenfalls im Hause weilender Freund des Sekretärs … wurde durch die selbe Bombe so schwer verletzt, dass er abends, nach einem Lazarett geschafft, dort verschied. Ich selbst, beim Bergen von Akten, Schreibmaschinen und anderen allem Greifbaren beschäftigt, kam mit leichten Verletzungen und Zerreissen meiner einzigen Bekleidung davon. Wir drei Familienangehörigen, ein junger Schwede und seine deutsche Frau, die sich ebenfalls am 24. April eingefunden hatten, harrten in dem kleinen Luftschutzkeller aus. Es war ungemütlich, die Abschüsse der auf dem Grundstück tätigen Geschütze wechselten mit dem Dröhnen der einschlagenden russischen Artilleriegeschosse. Die kämpfenden Truppen befanden sich tagelang nur hundert und noch weniger Meter voneinander entfernt. Am 30. April abends gegen 19 Uhr hörten wir über uns russische Stimmen. Wir verhielten uns ruhig und wurden nicht entdeckt, obwohl die obere Tür zum Keller durch Beschädigung halb offen stand. Am Vormittag des ersten Mai hörten wir deutsche Stimmen. Eine Schwedin, die ausgebombt war, suchte und fand Zuflucht in dem Trümmerrest der Schwedischen Kirche. Aber schon vor der ersten Nachtruhe war auch diese bescheidene Hoffnung zunichte. Am ersten Mai, 19 Uhr, brannte die Kirche! Phosphor! Bestürzt retteten wir in Eile nur das Wenige, was zu retten war durch das kleine Notausgangsfenster des Luftschutzkellers, bis durch die Hitze und Brände Hinunterfallendes uns nichts übrig blieb als der herzzerreissende Anblick der restlosen Vernichtung eines Heiligtums. Auch der Glockenturm brannte, die Glocke gab noch mal einen letzten Klang.“
unter-berlin: Ein dramatisches Ende! Und die Anderen im Luftschutzkeller – waren das ebenfalls „U-Boote“?
Gisela Jacobius: Das war ja nur dieser eine Schwede … das war ein schwedischer SS-Mann und seine hochschwangere Partnerin. Und wir mussten uns natürlich vor denen in Acht nehmen. Denen durften wir nicht sagen, was mit uns los war.
unter-berlin: Das muss doch eine unglaubliche Erleichterung gewesen sein, als schließlich alles vorbei war!
Gisela Jacobius: Ich wollte ja hoch, als ich oben die russischen Stimmen gehört habe. Da hat mich ja nichts mehr halten können, ich wollte ja rauf, ich war ja beglückt, ich wollte doch meinen Befreiern praktisch um den Hals fallen … aber man hat mich zurückgehalten, das wäre vielleicht übel mit mir ausgegangen, die hätten gleich gesagt: „Frau, komm! Frau, komm!“ Das war das Erste, was sie alle gesagt haben, ausgehungert, wie sie waren.
unter-berlin: Und wann konnten Sie sich dann zeigen?
Gisela Jacobius: Wir sind dann zwei Häuser weiter zu Dr. Huttner in die Villa gegangen und haben uns erst mal dort aufgehalten.
unter-berlin: Sie haben es alles überstanden. Und heutzutage leben Sie im „Land der Täter“. Ist das manchmal schwierig?
Gisela Jacobius: Nein. Die leben ja fast alle nicht mehr. Diejenigen, die die Morde begangen haben, sind ja zum großen Teil schon in meinem Alter und weggestorben.
unter-berlin: Es wird manchmal berichtet, dass die Überlebenden des NS-Völkermordes Schuldgefühle empfinden. Ist das bei Ihnen auch so?
Gisela Jacobius: Nein. Ich empfinde kein Schuldgefühl. Ich meine, es ist natürlich ein Unterschied, wenngleich letzten Endes dasselbe dabei rausgekommen wäre: Wenn man mich geschnappt hätte, wäre ich unweigerlich ins KZ gekommen. Aber ich war nun nicht im KZ … hatte Glück. Ich habe die selbe Vergangenheit wie die Anderen auch … aber ich habe mich dem direkten Zugriff der Nazis entzogen, habe mich nicht abholen lassen.
unter-berlin: Frau Jacobius, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Es bleibt hinzuzufügen, dass auch die weitere Existenz von Gisela Jacobius in recht ungewöhnlichen Bahnen verlief: von Berlin nach Russland, nach Israel ... und wieder nach Berlin! In dem 2005 erschienenen Band „Gisela Jacobius – als Jüdin in Berlin“ hat Margrit Delius diesen Lebensweg festgehalten (Verlag Hentrich & Hentrich).
Oktober 2006