Unmittelbar nach ihrer Machtergreifung 1933 errichteten die Nazis in Berlin zahlreiche „wilde Konzentrationslager“, in denen politische Gegner und andere Menschen willkürlich misshandelt und in vielen Fällen auch getötet wurden. Bei den Räumlichkeiten handelte es sich oft um die Keller von Gebäuden, die bereits von den Nazis genutzt wurden (zum Beispiel „Sturmlokale“ der SA). Paul Tollmann wurde im April 1933 als Siebzehnjähriger verhaftet und verbrachte eine Woche in den Haftkellern Albertstraße und Papestraße. Hier berichtet er von seinen Erfahrungen.
unter-berlin:
Herr Tollmann, in welchem Teil Berlins sind Sie aufgewachsen?
Paul Tollmann:
Ich bin in Schöneberg aufgewachsen, in einem Wohngebiet, das die „Rote Insel“ genannt wurde. Dort waren überwiegend die Sozialdemokraten und die Kommunisten politisch wirksam. In dieser Gegend zeigten sich auch die Auswirkungen der wirtschaftlichen Entwicklungen am deutlichsten, wie zum Beispiel die Arbeitslosigkeit. Auch die politischen Auseinandersetzungen waren dort besonders hart. Und weil man diese Konflikte so eindringlich erlebte, machte man sich schnell ein eigenes Bild der Politik.
Die ersten politischen Auseinandersetzungen zwischen den Parteien, zum Beispiel zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten oder zwischen dem Zentrum und den Deutschnationalen waren bis etwa 1927/28 fast noch demokratisch. Man hat sich zwar manchmal beschimpft, aber es gab kaum Schlägereien. Das kam erst, als nationalistische Gruppierungen wie zum Beispiel der „Stahlhelm“ versuchten, in den Arbeiterbewegungen Fuß zu fassen. Und dann haben sich die Verhältnisse vor allem mit dem Auftreten des Nationalsozialismus verändert. Das bemerkte man auch insofern deutlich, als dass die SPD und KPD sowie die ihnen angeschlossenen Verbände sich dagegen gewehrt haben. Heutzutage wird sehr oft geschrieben, dass die Nationalsozialisten besonders stark waren. Aber für meine Begriffe waren sie nur besonders gut organisiert und traten in Massen auf ... weil sie ihre Anhänger aus der gesamten Umgebung herantransportierten. Außerdem waren auch viele Neugierige dabei, die einfach beobachten wollten, was auf der Straße passierte.
unter-berlin:
Hätten die SPD und KPD durch ein geschlossenes Auftreten die Nazis verhindern können?
Paul Tollmann:
Als Heranwachsender habe ich durch meinen Vater, meinen Bruder und meinen Onkel mitbekommen, wie es in den Parteien aussah: Die SPD war hauptsächlich eine „Mitgliederlistenpartei“, sie war keine aktive Partei. Seit dem Tode Friedrich Eberts 1925 hatte sie ihre politische Linie verloren. Und sie hat die bürgerlichen Elemente alle an ihren Plätzen in der Verwaltung gelassen und sich mit ihnen geeinigt. Die KPD und ihre Organisationen hingegen betrieben aktive Politik. Da fanden ständig Kundgebungen, Aktionen und Treffen statt, bei denen die Mitglieder auch anwesend sein mussten. Sonst wurden sie kritisiert. Insgesamt hat der Streit in den eigenen Reihen die Arbeiterbewegung sehr geschwächt. Oft ging es den Beteiligten dabei nur darum, Posten zu erringen und ihre persönliche Macht zu sichern.
Viele andere Menschen wiederum haben sich nicht an der Politik beteiligt. Außerdem hatten die Bürgerlichen die finanziellen Mittel in ihren Händen, nach dem Ersten Weltkrieg hatte es ja keine Enteignungen gegeben. Ein weiterer Gesichtspunkt war, dass es der Arbeiterschicht an politischer Erfahrung mangelte. Da konnte man keine politische Bildung oder politisches Wissen erwarten, zumal der Staat nicht dazu beigetragen hat. Erst in den letzten Jahren der Weimarer Republik entstanden die Volkshochschulen. Insgesamt gab es also kaum Möglichkeiten für die politische Schulung der Bevölkerung. Einfache Menschen konnten sich kaum bilden. Ich hatte glücklicherweise einen antifaschistischen Pionierleiter, der mir viele Dinge erklärte ... was es zum Beispiel mit Hitlers „Mein Kampf“ auf sich hatte.
unter-berlin:
Sie haben jetzt verschiedene Gründe aufgeführt, warum das politische System der Weimarer Republik nicht funktionierte. 1933 brach es dann ja auch ganz schnell zusammen - und Sie wurden als Siebzehnjähriger von den Nazis verhaftet! Wie kam das?
Paul Tollmann:
Mein Vater war links eingestellt und neigte zu den Kommunisten. Als die Nazis dann auf der „Roten Insel“ erste Sprecher hatten, hatte er mit diesen Menschen auch Konflikte. So verkehrte er zum Beispiel in einem Lokal in der Naumannstraße. Und da gab es auch eine Person, die sehr nationalistisch gesinnt war. Mein Vater hat etwa zwei Jahre lang mit diesem Menschen Auseinandersetzungen gehabt. Dabei war die Mehrheit in dem Lokal immer auf seiner Seite. Es gab schließlich auch körperliche Tätigkeiten. Mein Vater war der Stärkere und hat seinen Gegner dabei aus dem Lokal geschmissen.
Ende 1932 sind wir nach Friedenau gezogen. Dort engagierten wir uns aber politisch nicht. Ein Jugendgenosse hatte mir in diesem Zusammenhang gesagt: „Verhalte dich da neutral, wir brauchen noch deine Hilfe.“ Das bedeutete dann konkret, dass man mir schon Anfang Januar 1933 politisches Material brachte, das ich heimlich aufbewahren sollte. Und dann gab es plötzlich im April 1933 eine Hausdurchsuchung. Sie wurde von dem Mann veranlasst, mit dem mein Vater im Lokal immer Konflikte gehabt hatte. Der war zur SA gegangen und die hatte wiederum die Polizei alarmiert. Mein Vater war bei der Hausdurchsuchung dabei, wusste aber nichts von den Materialien, die ich aufbewahrte. Und auf einem Dachboden des Hauses fand man sie dann. Das war Propagandamaterial, aber auch Abzeichen und Ausweise anderer Parteien. Man musste ja wissen, was bei den politischen Gegnern passierte. Jede Partei machte das so. Das Ergebnis der Durchsuchung war, dass mein Vater, mein Bruder und ich verhaftet wurden – obwohl die Beiden ja nichts von dem versteckten Material gewusst hatten ...
unter-berlin:
Wo brachte man Sie dann hin?
Paul Tollmann:
Wir kamen dann in ein NSDAP-Gebäude, in die „Rote Villa“ an der Albertstraße, Ecke Feurigstraße ... dort in den Keller. Und da erfolgten auch die Verhöre und die Prügelei. Die Frage war hauptsächlich: „Wo habt ihr das Material her?“ Erst wurde mein Vater verhört, dann mein Bruder, dann ich. Die Verhöre fanden alle zwei bis drei Stunden statt, jedes Mal kamen wir blutig geschlagen zurück. Das habe ich zwei Tage lang durchgehalten. Dann dachte ich mir: „Du musst dir was einfallen lassen, das geht so nicht weiter.“ Schließlich hatte ich auch gesehen, wie Andere bei Verhören so verprügelt wurden, dass sie danach nicht mehr aufstehen konnten. Und schon am zweiten Tag konnte mein Vater nur noch auf dem Boden hocken oder liegen. Er hat zehmal so viel Schläge bekommen wie mein Bruder und zwanzigmal so viele wie ich. Und ich blutete ja auch schon an verschiedenen Stellen.
unter-berlin:
Und was taten Sie dann?
Paul Tollmann:
Ich hatte ja gesehen, was in den ersten Monaten nach der Machtergreifung der Nazis auf den Straßen passierte. Da wurden Leute verhaftet, aber da wurden auch noch antifaschistische Flugblätter verteilt. Deswegen habe ich dann am zweiten Tag bei der Vernehmung gesagt: „Jawohl, das Material vom Dachboden hat mir jemand auf der Straße gegeben.“ Dann wurde ich sehr stark verprügelt, man wollte mir das nicht glauben. Aber ich wusste genau: Da konnte man was sagen oder nichts sagen – es gab auf jeden Fall Prügel! Und ich bin einfach bei meiner Version geblieben. Dabei kam mir zugute, dass ich den Vernehmern nicht als Kommunist bekannt war.
Als Siebzehnjähriger machte ich nach den ersten Verhören und den ersten Misshandlungen natürlich einen sehr elenden Eindruck. Dazu muss ich aber auch sagen: Wenn ich in der Albertstraße nach den Verhören oben wieder in den Keller kam, befanden sich dort im Erdgeschoss NS-Frauen, die uns getröstet haben. Sie haben uns das Blut abgewischt und dann wieder in den Keller gebracht. Von denen haben wir auch Butterbrote und etwas was zu trinken bekommen, die waren für die Versorgung da. Und ich wurde als Kleinster und Jüngster besonders in den Arm genommen und gestreichelt. Ich wurde nie so lieb behandelt wie von den Frauen da. Ich glaube, dass sie wirklich Mitleid mit uns hatten. Die waren dort ja zur Versorgung der Nationalsozialisten eingesetzt ... und hatten dann plötzlich 50, 80 Leute in dem Keller, die sie zusätzlich versorgen mussten. Jedenfalls wurden mein Vater und mein Bruder nach meinem „Geständnis“ am zweiten Tag entlassen.
unter-berlin:
Und Sie?
Paul Tollmann:
Ich blieb da noch bis zum späten Abend. Gegen neun oder zehn Uhr, es war draußen schon dunkel, wurden wir dann abtransportiert. Wir waren 30 oder 35 Personen. Und wir wussten nicht, wohin es ging. Erst als wir ausgeladen und in einen Keller geworfen wurden, haben die ersten Leute dann gesagt, dass wir in der Papestraße wären. Ich hatte mir das von der Orientierung her bereits gedacht – für Menschen, die in Schöneberg lebten, war die Papestraße schon ein Begriff. Jedenfalls wurden wir die Kellertreppe Hals über Kopf heruntergestoßen, das waren etwa zehn Stufen. In dem Keller befanden sich schon einige Personen. Und vor der Tür des Kellers stand außen ein SA-Mann. Ein Anderer befand sich wiederum an der Innenseite. Er sollte aufpassen, dass wir nicht miteinander redeten ... manchmal waren sie allerdings kulant. Und dann gab es wieder die üblichen Verhöre.
unter-berlin:
Sie sagen, Sie hätten vorher bereits von dem Keller in der Papestraße gewusst?
Paul Tollmann:
Ich hatte ja auch in Friedenau noch Verbindungen zu Freunden und Genossen von der „Roten Insel“. Im Januar 1933 waren dort bereits die ersten hauptamtlichen Funktionäre und die anderen politisch Aktiven untergetaucht. Sie haben das Gebiet verlassen und sind in die Illegalität gegangen. Denn im Januar und Februar gab es schon die ersten Verhaftungen. Diejenigen, die glaubten, dass es nicht so schlimm kommen könnte, die sind geblieben ... und verhaftet worden. Ich kenne allerdings namentlich nur vier Personen, die nicht abtauchten und von den Nazis verhaftet wurden. Jedenfalls erfuhren wir durch Flüsterparolen schnell, was in der Papestraße geschah: Die Vernehmer hatten Akten über die einzelnen Inhaftierten und wollten die Namen weiterer Genossen erfahren. Bei den Verhören lagen diese Akten immer auf dem Tisch.
unter-berlin:
Wie ging es dann für Sie in der Papestraße weiter?
Paul Tollmann:
Als ich das erste Mal zum Verhör nach oben kam, saßen da vier Vernehmer an einem Tisch. Ich sah, dass sie keine Akte vor sich hatten, sondern nur einen Notizblock. Und wir hatten uns unten im Keller vorher abgesprochen: Es gab unter den Inhaftierten nämlich einige, die man auf der Straße in der Nähe der Papestraße verhaftet hatte. Dort waren zuvor linke Flugblätter verteilt worden. Die Verhafteten hatten gar nichts mit den Flugblättern zu tun. Aber bei den Verhören sagte man zu ihnen: „Ihr habt da doch sicher jemanden beim Verteilen gesehen!“ Es gab damals so viele willkürliche Verhaftungen ... ich glaube, die SA musste eine bestimmte Quote erfüllen. Als ich jedenfalls beim ersten Verhör sah, dass die Vernehmer keine Unterlagen über mich hatten und dann die Frage „Warum bist du hier?“ kam, habe ich geantwortet: „Ich bin da herumgelaufen, da sollte was los sein, ich bin gucken gegangen, was da ist, und dann haben sie mich mitgenommen.“ Daraufhin haben die Vernehmer gesagt: „Du hast dich hier doch herumgetrieben, du wohnst doch gar nicht hier!“ Dann wurde ich natürlich geprügelt, man sagte: „Wenn du hier herumläufst, musst du doch auch ein paar Leute hier kennen!“
Nun, wenn man Nein sagte, setzte es Prügel. Und wenn man einen Namen sagte, gab es gleich doppelt Prügel! Denn dann wollten die Vernehmer weitere Namen erfahren. Wir wussten also schon von den ersten Verhaftungen damals: Irgendetwas zu sagen, ist der größte Fehler! Die Härte und das Maß an Prügel hingen oft auch nicht davon ab, was man sagte, sondern davon, welche Laune die Vernehmer hatten. Die haben den prügelnden SA-Leuten dann entsprechende Zeichen gegeben.
unter-berlin:
Sie waren durch die Informationen bereits verhafteter Genossen in gewisser Hinsicht also schon auf diese Verhöre vorbereitet ...
Paul Tollmann:
Ja. Aber die Bürgerlichen, die nichts davon wussten und sich solche Dinge gar nicht vorstellen konnten – für die war es besonders schrecklich!
unter-berlin:
Haben Sie unter den SA-Männern jemals eine Person gesehen, die Ihnen bekannt war?
Paul Tollmann:
Nein. Das waren keine Ortsansässigen. Die SA-Leute und die Vernehmer wurden aus anderen Stadtteilen herangeholt. Außerdem haben die Vernehmer auch gewechselt – schon am dritten Tag in der Papestraße saßen da andere Personen. Man sollte sie eben nicht erkennen könne. Ich glaube sogar, dass es hier kaum Vernehmer aus Berlin gab. In Berlin waren die Nazis nicht sehr stark. Die Berichte heutzutage sind meistens irreführend. Die SA ist zum Beispiel hier in Friedrichshain nur in Gruppen uniformiert herumgelaufen. Einzeln hätten die sich das gar nicht getraut! Bis 1933 waren sie nur eine Minderheit ... zumindest in den Arbeiterbezirken.
unter-berlin:
Wie lange waren Sie in der Papestraße?
Paul Tollmann:
Fünf Tage. Die Verhöre wiederholten sich ständig. Aber ich bin bei meiner Version geblieben. Schließlich waren meine Verhöre nur noch formal. Aber unten im Keller musste ich erleben, wie man Andere zugerichtet hatte. Wie es mir deswegen erging, zeigt sich schon daran, dass ich immer noch nicht erinnern kann, ob ich in der Papestraße zu Essen oder zu Trinken bekommen habe. So erschlagen, so zerstört war ich durch diese Erlebnisse. Ich habe in meinem Keller gesehen, wie ein jüdischer Arzt auf einem Feldbett, das in einem Vorraum stand, gestorben ist. Bei den Verhören hatte man ihn immer wieder verprügelt. Genau so erging es auch einem jüdischen Rechtsanwalt, der nicht mehr hoch kam und vor meinen Augen auf der Erde verblutete. Und wenn man das als Siebzehnjähriger erlebt ... also, ich habe weniger an meinen eigenen Schmerzen gelitten als am Anblick dieser Dinge. Man kann dann überhaupt nicht mehr denken, man weiß überhaupt nicht mehr, was da geschieht. Wenn man den ersten Toten gesehen hat, denkt man: „So wird es dir auch gehen ... mit dem machen sie den Anfang.“
Erschwerend kam hinzu, dass es wegen des Redeverbots nur begrenzt möglich war, sich mit den Anderen auszutauschen. Und wir wussten auch nicht, ob sich unter den Gefangenen Spitzel befanden. Deswegen hat auch keiner erzählt, was er vor seiner Verhaftung getan oder was er oben bei den Verhören erlebt hatte. Man hat nur die Menschen bedauert, die verprügelt wieder in den Keller kamen.
unter-berlin:
Wie viele Menschen waren damals in dem Keller in der Papestraße?
Paul Tollmann:
In meinem Kellerraum waren etwa 35, 38 Leute. Aber in dem Hauptkellergang waren ja noch mal 10, 12 Kellerräume. Einige davon waren größer als unser Raum. Bei einer vollen Besetzung wären es mindestens 500 Personen gleichzeitig gewesen. Die Historiker gehen davon aus, dass vom März bis Oktober 1933 mindestens 2000 Menschen in dem Keller Papestraße inhaftiert waren. Ich schätze diese Zahl weitaus höher ein. Ich weiß zudem, dass bei größeren Verhaftungswellen zeitweilig auch Menschen in die Keller anderer Gebäude in der Papestraße gesperrt wurden.
unter-berlin:
Wie verhielt es sich mit dem Haftkeller in der Albertstraße?
Paul Tollmann:
Auch dort gab es mehrere Kellerräume. Der Keller hat einen Grundriss von mindestens 200, 250 Quadratmetern. Und dort blieben noch Gefangene zurück, als wir mit 30, 35 Personen auf einem LKW abtransportiert wurden. Da befanden sich ständig Häftlinge. Insgesamt war das ein großes Durcheinander, die Häftlinge wurden hin und her transportiert. Das hing davon ab, wo gerade noch Platz war.
unter-berlin:
Wie kamen Sie aus dem Keller in der Papestraße wieder heraus?
Paul Tollmann:
Ich hörte von den Mitgefangenen, dass regelmäßig Menschen aus dem Keller abtransportiert wurden. Da wurden dann meistens ganze Kellerräume geleert, damit die Nazis einen besseren Überblick hatten. Am fünften Tag – an dem ich übrigens meinen 18. Geburtstag hatte – hieß es abends spät, dass wir uns zum Abtransport fertig machen sollten. Wir fragten uns: „Wohin geht es nun? Was passiert?“ Wir hatten ja alle schon von dem berüchtigten Columbia-Haus in Berlin und dem KZ Sachsenhausen gehört. Als dann „Alles fertig!“ gemeldet wurde, ergriffen mich zwei SA-Leute und stopften mich in einen Strohhaufen. Wir hatten in einem Kellerraum, der zur Straße hin lag, nachts auf der Erde Stroh, das während des Tages in einer Ecke aufgeschichtet wurde. Das war dann ein Haufen mit einer Höhe von zwei Metern. Ich dachte: „Jetzt wirst du umgebracht!“ Ich wollte noch schreien, aber die SA-Leute haben mir gesagt, ich solle ruhig sein. Der Keller wurde dann geräumt, ich wimmerte in dem Strohhaufen. Und als der Keller leer war, kamen die beiden SA-Leute zurück und beförderten mich vor die Tür des Hauses. Sie sagten: „Los, raus, hau ab!“ Und ich ging nach Hause.
unter-berlin:
Die beiden SA-Männer hatten offenbar Mitleid mit Ihnen?
Paul Tollmann:
So sah es aus. Es gab da Unterschiede zwischen den SA-Männern. So waren zum Beispiel unsere Wachen humaner als diejenigen, die bei den Verhören anwesend waren.
unter-berlin:
Wie erging es Ihnen in den folgenden Jahren, Herr Tollmann? Wurden Sie beobachtet? Wurden Sie schikaniert?
Paul Tollmann:
Nun, als ich 1938 zur Wehrmacht eingezogen wurde, sagte der Kompaniechef gleich zu mir: „Sie waren Kommunist!“ Und er warnte mich vor entsprechenden politischen Tätigkeiten. Die waren also über meine Vergangenheit informiert.
unter-berlin:
Waren Sie denn nach 1933 überhaupt noch politisch aktiv?
Paul Tollmann:
Ja, ich war noch engagiert, aber nur „in der zweiten Reihe“. Ansonsten wäre das zu riskant gewesen. Ich stand nur noch mit zwei Genossen in Verbindung. Als ich an der Ostfront kämpfen musste, übermittelte ich denen zum Beispiel Nachrichten von den deutschen Kriegsverbrechen in der Sowjetunion ... also den Verbrechen der Wehrmacht. Das war ja nicht nur die SS!
unter-berlin:
War es für Sie nicht eine besondere psychische Belastung, in der Wehrmacht für die Nazis kämpfen zu müssen?
Paul Tollmann:
Ich habe nie gezielt auf Menschen geschossen, sondern immer nur in die Luft. Und ich umgab mich an der Front immer mit zwei, drei Gleichgesinnten. Wir hielten uns aus den Kampfhandlungen so weit wie möglich raus. Wenn wir einen Angriff durchführen mussten, blieb ich einfach irgendwo liegen.
unter-berlin:
Haben Sie jemals mit dem Gedanken gespielt, zu den Sowjets überzulaufen?
Paul Tollmann:
Das war zu gefährlich. Die Sowjets haben sich Überläufern gegenüber sehr ungeschickt verhalten. Man riskierte, dabei erschossen zu werden.
unter-berlin:
Wie war es dann nach dem Krieg, Herr Tollmann? Oft behaupteten die Menschen ja, sie hätten von den NS-Verbrechen nichts gewusst. Glauben Sie, dass der Berliner Bevölkerung die Ereignisse in der Papestraße bekannt waren?
Paul Tollmann:
Auf der Roten Insel wussten alle davon, das war das Stadtgespräch. „Papestraße – da tobt die SA!“ Und sie mussten es auch wissen, es war doch sichtbar, was geschah! Aber 1945 wusste plötzlich niemand etwas mehr. Auch die Anwohner in der Papestraße sagten mir, sie hätten nichts gewusst.
unter-berlin:
War diese Verdrängung der NS-Verbrechen im Westen der Grund, warum Sie später nach Ost-Berlin gezogen sind?
Paul Tollmann:
Nein, mein Zuhause war ja zunächst einmal West-Berlin. Aber meine erste Arbeit war im Osten der Stadt und ich bekam somit nur Ostgeld ausgezahlt. Deswegen konnte ich nach der Währungsreform meine Miete im Westen nicht mehr bezahlen und zog nach Treptow. Später kam dann ja die Mauer und ich saß im Osten fest.
unter-berlin:
Und jetzt leben Sie immer noch im Osten Berlins ...
Paul Tollmann:
Ja, wir haben später in der Aufbaulotterie eine schöne Wohnung in der Karl-Marx-Allee gewonnen und blieben hier.
unter-berlin:
Hatte der Aufenthalt in den SA-Haftkellern psychische Nachwirkungen? Leiden Sie an irgendwelchen Spätfolgen?
Paul Tollmann:
Wissen Sie, ich konnte ja nie offen über diese Dinge reden: Unter den Nazis durfte ich natürlich nichts sagen. In West-Berlin wiederum wollte es nach 1945 niemand hören. Und in Ost-Berlin galt ich als verdächtig – weil ich eben vorher im Westen der Stadt gelebt hatte! Ich konnte also nur im kleinen Kreis darüber reden. Erst im Rahmen der seit einigen Jahren stattfindenden Gedenkveranstaltungen in der Papestraße konnte ich den Menschen offen von meinen Erlebnissen erzählen. Damit ist eine große Last von mir gefallen!
unter-berlin:
Zum Abschluss noch eine Frage: In den letzten Jahren hat es ja eine Debatte darüber gegeben, ob man die Opfer des Nationalsozialismus und die Menschen, die in der SBZ oder DDR Unrecht erlitten, gleichsetzen kann. Diese Frage tauchte ja auch im Zusammenhang mit der Debatte um die NS-Haftkeller einerseits und die Haftkeller der Sowjets bzw. der Stasi andererseits auf. Wie stehen Sie zu dieser Diskussion?
Paul Tollmann:
Also, grundsätzlich kann man die Stasi nicht mit den Nazis vergleichen. Ich weiß aus guten Erfahrungen, dass die Stasi-Keller die besten Gefängnisse waren. Dahinter steckte ja auch die Absicht, unter den Inhaftierten Agenten zu gewinnen. Und noch etwas: Ich habe einmal die Aufgabe bekommen, in sämtlichen Haftanstalten der DDR eine Untersuchung durchzuführen. Es ging um die Frage, wie man dort die Produktivität steigern könnte. Das war in den siebziger Jahren. Die Wärter haben die Leute dort nach Vorschrift behandelt. Nur den Häftlingen, die wirklich Probleme machten, ging es schlecht. Die bekamen dann Einzelhaft oder wurden in einen Dunkelkeller gesperrt. Aber eine Schädigung der Gesundheit war dabei nicht beabsichtigt. Oft ist das Problem in solchen Situationen auch, dass die Häftlinge sich gegenseitig angreifen. Das hat mit der typischen Haftsituation zu tun.
Was die politischen Stasi-Häftlinge betrifft, so haben mir die Wärter bestätigt, dass die Vorgehensweise „Zuckerbrot ohne Peitsche“ war. Die Inhaftierten haben alles bekommen, was sie wollten. Warum? Weil dauernd ausländische Botschafter kamen und sich erkundigten, ob es in den Gefängnissen korrekt zugehen würde. Und keiner von ihnen hat einen negativen Bericht erstellt. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass alle Wärter mir Lügen erzählt haben. Die haben sogar eine direkte Anweisung bekommen, den politischen Häftlingen nichts anzutun. Außerdem: Viele dieser Häftlinge wurden später doch vom Westen freigekauft. Und man hätte sie doch sicher nicht vorher schlecht behandelt – sonst hätten sie im Westen sofort die DDR angeklagt. Und was die so genannten „GPU-Keller“ betrifft: Das waren doch deutsche Gefängnisse unter sowjetischer Leitung. Und es waren meistens Deutsche, die Andere denunziert hatten, die dann in diesen Gefängnissen landeten. Die Russen selbst hatten doch kein Interesse, sich unnötig Feinde zu machen. Die Russen werden oft sehr negativ dargestellt.
unter-berlin:
Herr Tollmann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Januar 2007