Für Horst Rothkegel gab es nach dem Kriege noch eine große Überraschung – nämlich die Nachricht, dass auf der anderen Seite des Luftschutzkeller unter der Kirche eine zweite Person versteckt wurde: Karl Müller. Gegenüber dem Verfasser sagte Rothkegel in diesem Zusammenhang, ihm würde es unerklärlich bleiben, dass er nicht von davon wusste. Und tatsächlich kann man sich ja kaum vorstellen, dass ein Mensch der eine Person an einem Ende eines Kellers versteckt, keine Kenntnis davon hat, dass seine Kollegen am anderen Ende ebenfalls jemanden verbergen. Und doch ist es plausibel – innerhalb jener Logik, der auch Rothkegel selbst folgte. Denn zu jener Zeit mussten die Helfer der Herz-Jesu-Gemeinde immer mit einer Verhaftung durch die Gestapo rechnen. Das wiederum konnte endlose Verhöre und auch Folter bedeuten. Aus diesem Grunde war es für alle zwingend notwendig, nur das zu wissen, was unmittelbar für die Erfüllung der anstehenden Aufgaben notwendig war. Mehr sollte, durfte und wollte man auch gar nicht wissen. Die Arbeit musste absolut konspirativ verlaufen. „Wir haben nie über diese Leute da gesprochen“, erklärt Rothkegel dazu. Und wie jeder damals gesagt hätte: „Mitwisserei macht mich nur unsicher beim Verhör.“
Karl Müllers Versteck war der aus zwei Räumen bestehende Sakristeikeller am südlichen Ende der Kirche. Er ist über eine Treppe zugänglich, die von einem Gang abzweigt, der vom Inneren der Kirche, aber auch vom Hof an der Schönhauser Allee aus erreicht werden kann. Wenn man die Treppe hinabsteigt, gelangt man in einen Raum, der über einen kurzen Durchgang zu einem zweiten Raum führt. Dieser hintere Raum war durch die erwähnte, 1947 vermauerte Tür mit einer der Gasschleuses des Luftschutzbunkers verbunden. Dieser Zugang wurde während der Luftangriffe aber nicht verwendet, was wahrscheinlich damit zu tun hat, dass die zum Sakristeikeller führende Treppe recht schmal und steil ist und somit einen gefährlichen, unfallträchtigen Engpass dargestellt hätte. Sie konnte nur als Notausgang benutzt werden.
Karl Müller war Jude und engagierter Kommunist. Deswegen war er während des Nationalsozialismus von Anfang an besonders gefährdet. Der Versuch, in die USA auszuwandern, scheiterte. Um seine Familie vor den zunehmenden Ausschreitungen der Nazis zu schützen, trat Müller 1938 aus der jüdischen Gemeinde aus. Diese Maßnahme half ihm aber nicht: Während der „Kristallnacht“ am 9.11.1938 wurde er vom nationalsozialistischen Mob auf der Straße so sehr zusammengeschlagen, dass er einen Schädelbruch erlitt. Seine Frau und seine beiden Kinder erlitten über Jahre hinweg schlimmste Schikanen und Demütigungen. In ihren Erinnerungen „Biste ’ne Jüdische? Haste den Stern?“ hat Müllers Tochter Berit Gehrig diese deprimierenden Erfahrungen und die daraus resultierenden psychischen Schäden eindringlich beschrieben. Sie berichtet in dem Text zum Beispiel, wie ihre Mutter während des Krieges im Hauskeller von einem „Du Judensau!“ brüllenden Angreifer überfallen und niedergeschlagen wurde. Im Jahre 1941 hatten die Nazis bereits ihre Wohnung verwüstet. Karl Müller wurde im Laufe der Zeit also klar, dass der Übertritt zum Katholizismus seine Familie also nicht schützen könnte. Er selbst war als gebürtiger Jude dabei besonders exponiert, während seiner Frau, ursprünglich Katholikin, ein anderer Status innerhalb der NS-Rassengesetzgebung zukam. Nachdem er einen schweren Arbeitsunfall erlitten hatte und längere Zeit arbeitsunfähig gewesen war, tauchte Müller nach vorheriger Absprache mit seiner Frau 1944 (wahrscheinlich Anfang September) unter. Seine Gattin meldete ihn als „vermisst“. Nachdem er zunächst in verschiedenen Wohnungen katholischer Gemeindemitglieder unterkam, wurde der Sakristeikeller schließlich Müllers endgültiges Versteck. Ursula Pruß und Dr. Herzberg geben als entsprechenden Zeitpunkt Oktober 1944 an. Berit Gehrig schreibt allerdings, dass ihr Vater ganze zwei Jahre lang in dem Keller versteckt wurde. Der Verfasser kann sich diesen gravierenden Widerspruch nicht erklären. Da Berit Gehrig mittlerweile sehr zurückgezogen lebt, lässt sich dieses Rätsel nicht lösen. Insgesamt scheinen die vorhandenen Dokumente aber Ursula Pruß und Dr. Herzberg Recht zu geben.
Pfarrer Alfred Brinkmann, dessen Schwester, der Küster Robert Kaminski und Dr. Margarete Sommer kümmerten sich während dieser Zeit um Karl Müller. Darüber hinaus brachte seine Tochter Berit ihm regelmäßig Essen vorbei. Für diesen Zweck musste sie aber aus Gründen der Geheimhaltung immer große Umwege in Kauf nehmen und darauf achten, dass niemand ihr folgte. Ob Müller sich auch tagsüber in dem Keller aufhielt oder so wie Wolff durch die Stadt lief, ist nicht bekannt. Zu den Besonderheiten von Müllers Aufenthalt im Keller gehörte übrigens die Tatsache, dass er während der Bombenangriffe den Gesang der Bunkerinsassen hören konnte! Ganz am Ende des Krieges, am 1. Mai 1945, wurde die Familie noch ausgebombt – ausgerechnet jener Tag, an dem Karl Müller sein Versteck endlich verlassen konnte. Aber: Sie hatten überlebt! Denn bis zum Ende mussten Müllers Frau und seine Kinder immer mit einer möglichen Verhaftung und Deportation rechnen. Nach dem Krieg arbeitete Karl Müller bei der Sequestrierung und Entnazifizierung in Ost-Berlin. 1970 starb er und wurde auf dem Friedhof Sankt Hedwig in Berlin-Weißensee begraben.
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