Es bleibt die Frage, ob außer Erich Wolff und Karl Müller noch andere Menschen unter der Kirche versteckt wurden. Wie bereits erwähnt, schreiben Ursula Pruß und Dr. Herzberg von vier Personen, ohne jedoch die beiden fehlenden Namen zu nennen. Berit Gehrig wiederum schreibt in ihren Erinnerungen: „Mein Vati hat sich ... im Kirchenkeller versteckt. In der Herz-Jesu-Kirche. Da waren noch mehr. Ich glaube, drei Juden waren da noch.“ Erich Wolff wird in diesem Zusammenhang nicht namentlich genannt. An einer anderen Stelle schreibt Gehrig wiederum: „Später, als Vati in der Kirche im Keller versteckt war, da war da auch der Palinski, der war damals [während der Kristallnacht] auch so geschlagen worden.“ Auch diese Angabe lässt sich nicht konkretisieren. Die anderen drei Personen, die diesen Sachverhalt aufklären könnten, Dr. Sommer, Brinkmann und Kaminski sind bereits vor Jahrzehnten gestorben. Alle drei haben sich offenbar auch nie über ihre Aktivitäten während des Krieges öffentlich geäußert. Wahrscheinlich war die Hilfe für die Verfolgten für sie so selbstverständlich, dass sie es später als unnötig und unwürdig erachteten, darüber zu reden. Und es kommt noch ein anderer Sachverhalt hinzu: In der DDR war eine öffentliche Thematisierung dieser Ereignisse nicht erwünscht. Denn in der offiziellen Geschichtsschreibung konnten nur Kommunisten bzw. Sozialisten echte Widerstandskämpfer gewesen sein. Katholische Geistliche, die gegen die Nazis kämpften, passten nicht in dieses Bild. So traurig es klingen mag: Das Gedenken an den Widerstand im Dritten Reich war eine Geisel des Kalten Krieges – und zwar in beiden Teilen Deutschlands (in der BRD sprach man zum Beispiel sehr lange fast nur von den Männern des 20.7.1944). Horst Rothkegel sagt dazu, dass er in der DDR kein einziges Mal auf die unter der Kirche versteckten Menschen angesprochen wurde. Erst seit der Wende wird er von allen möglichen Leuten befragt. Da das Thema also viereinhalb Jahrzehnte lang nicht erforscht wurde, werden viele Fragen wahrscheinlich nie beantwortet werden.
Die Botschaft, die aus den Ereignissen in der Kirche während des Krieges spricht, ist trotzdem an Eindeutigkeit nicht zu übertreffen. In einer Zeit, als Deutschland einem kollektiven Wahn, einer kollektiven Raserei verfallen war, bewies ein kleiner Kreis gläubiger Menschen ungeheuren Mut und schützte diejenigen, deren Leben bedroht war. Man kann diesen couragierten Menschen nur seine Hochachtung zollen. Zugleich fragte sich der Verfasser immer wieder, was in den Köpfen von Erich Wolff und Karl Müller wohl vorgegangen sein mag – während der Nächte im Keller, während der Zeit, als sie jeden Tag mit einer Verhaftung und anschließender Ermordung rechnen mussten. Und wie sah das „danach“ aus, jene Zeit, in der plötzlich alle von den NS-Verbrechen „nichts gewusst“ hatten. Konnte man sich danach unter den Menschen in Deutschland überhaupt noch heimisch fühlen? Es bleibt nur zu hoffen, dass es in diesem Lande nie wieder zu einer Verfolgung von Minderheiten kommt.
Falls Leser dieses Artikels über weitere Informationen verfügen sollten, würde sich der Verein sehr über eine Nachricht freuen: info@unter-berlin.de, Tel. 31 01 73 73
Jana Leichsenring hat eine Publikation über das katholische Hilfswerk verfasst, die ab Herbst 2006 im Buchhandel erhältlich ist: "Die Katholische Kirche und >ihre Juden<. Das >Hilfswerk beim Bischöflichen
Ordinariat Berlin< 1938-1945"
Für weitere Informationen über die Herz-Jesu-Kirche: www.herz-jesu-kirche.de
Niko Rollmann, August 2006
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