Eine der beiden bekannten Personen, die im Keller der Herz-Jesu-Kirche versteckt wurden, war Erich Wolff. Sein Fall ist relativ gut dokumentiert, da es umfangreiche Unterlagen des Berliner Entschädigungsamtes aus der Nachkriegszeit gibt. Darüber hinaus erinnert sich Horst Rothkegel, der Wolff damals versteckte und versorgte, noch gut an die damaligen Ereignisse. Erich Wolff wurde 1894 geboren, arbeitete als Buchdrucker und hat nie geheiratet. Seit seinem fünften Lebensjahr hatte er chronische Probleme mit seinem linken Kniegelenk, die zuerst zur Entfernung der Kniescheibe und 1910 schließlich zur Amputation des Beines oberhalb des Kniegelenks führten. Als Jude geriet er nach 1933 in den Sog der nationalsozialistischen Verfolgung. Er verlor durch die Nazis zwei Brüder, von denen einer in Frankreich und einer im KZ Sachsenhausen starb. Vom 19.9.1941 bis zum 30.8.1942 trug er den gelben Stern, der die Juden endgültig zu Ausgestoßenen machte und praktisch die letzte Stufe vor dem Transport in die Konzentrations- bzw. Vernichtungslager darstellte. Wolff wusste, dass auch er bald an der Reihe war. Und so tauchte er am 31.8.1942 unter. Erst am Ende des Krieges, als sowjetische Truppen an der Herz-Jesu-Kirche auftauchten, durfte er sich wieder zeigen. Etwa 970 Tage lang musste er sich also verstecken, wurde er von permanenter Todesangst begleitet. In einem Brief an das Berliner Entschädigungsamt schrieb er darüber knapp:
Ich habe mich während dieser Zeit ohne polizeiliche Anmeldung und ohne Lebensmittelkarten an den verschiedensten Orten versteckt gehalten.
Einer dieser Orte war die Herz-Jesu-Kirche. Es ist bekannt, dass Wolff sich am 19. September 1942 in der Kirche taufen ließ, also zu einem Zeitpunkt, als er bereits in der Illegalität lebte. Seit wann er sich aber im Heizungskeller verborgen hielt, kann nicht mehr ermittelt werden. Der damalige Kaplan Pater Heinrich Kreutz, der Wolff zuerst versteckte, hat keine entsprechenden Informationen hinterlassen. Am 1. Oktober 1944 beendete Kreutz seinen Dienst in der Kirche und wurde von seinem Nachfolger, dem Kaplan Horst Rothkegel, abgelöst. Rothkegel war zu diesem Zeitpunkt 23 Jahre alt. Am Ende der Übergabe der Amtsgeschäfte sagte Kreutz zu Rothkegel, dass er noch „eine Erbschaft“ für ihn im Keller hätte. Diese Erbschaft war Erich Wolff! Was dachte Horst Rothkegel, als er mit Wolff, einem Verfolgten des Naziregimes, konfrontiert wurde? Fühlte er sich dieser immensen Verantwortung gewachsen? Wollte er diese Aufgabe überhaupt annehmen? Rothkegel beantwortet diese Fragen mit einem Zitat aus der Bibel: „Was Ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, habt Ihr mir getan.“ Und fügt hinzu, dass sonst doch jemand anders Wolff hätte verstecken müssen. Oder die Nazis hätten ihn verhaftet und deportiert. Rothkegel dachte sich: „Mit Gottes Hilfe – ich mache es!“ Dabei war ihm klar, dass er ein enormes Risiko einging. Eine Entdeckung Wolffs durch die Nazis wäre der „Super-GAU“ der Kirche gewesen. Andererseits, so Rothkegel, war man hinsichtlich der Angst durch den Krieg schon sehr abgestumpft. Man lebte nach dem Motto: „Wenn wir dran sind, sind wir dran.“ Und was dann käme, würde letzten Endes Gott verantworten.
Wie bereits erwähnt, wurde der Heizungskeller, in dem Erich Wolff sich versteckte, in der letzten Phase des Krieges nicht genutzt. Trotzdem war Wolff nur nachts dort. Es hätte möglicherweise ja doch eines Tages irgendjemand den Keller betreten und ihn entdecken können. Zudem wäre ein permanenter Aufenthalt dort eine zu große psychische und körperliche Belastung gewesen. Somit war Wolff, wie viele andere „U-Boote“, tagsüber unterwegs. Dabei musste er immer aufpassen, dass er nicht auffiel. Eines Tages geriet er in eine Kontrolle und wurde nach seinem Ausweis gefragt. Als untergetauchter Jude hatte er natürlich keine Papiere bei sich. Geistesgegenwärtig zeigte er sein Holzbein und sagte: „Das ist mein Ausweis!“ Die kontrollierenden Feldjäger, die ihn für einen versehrten Veteranen des Ersten Weltkrieges hielten, ließen ihn daraufhin gehen. Andere „U-Boote“ hatten in solchen Situationen weniger Glück.
Außer den bereits erwähnten Personen wussten übrigens die Pfarrhelferin Zornikau, der Organist Wanjura, die Frau des damaligen Kirchendieners Pohler und einige Andere von Erich Wolff. Wichtig war vor allem die Frage der Verpflegung. Da Lebensmittel zu jener Zeit rationiert und nur über zugeteilte Marken erhältlich waren, konnte man nicht einfach in einen Laden gehen und Nahrung kaufen. Rothkegel und die Familie Kreutz bereiteten Essen für ihren Schützling, während Dr. Sommer Lebensmittelkarten beschaffte. Auch Rothkegels Eltern versorgten Wolff manchmal. Mitunter schlief Wolff im zum Bunker gehörenden Luftschutzraum der auf dem Grundstück untergebrachten Schwestern Unserer Lieben Frau. Wenn es im Winter sehr kalt war, holte Rothkegel den Versteckten gelegentlich früh morgens zum Aufwärmen und sein Zimmer und teilte sein Frühstück mit ihm. Bei Luftangriffen wiederum begab Wolff sich einfach unter die Menschen in den Luftschutzräumen. Darüber hinaus war Wolff recht „pflegeleicht“. Rothkegel erklärt, dass sein Schützling nie besonders gesprächs- oder hilfsbedürftig gewesen wäre. Am Ende des Krieges erlebte Horst Rothkegel dann seine Sternstunde, als er russische Soldaten sah, in den Keller ging und zu Wolff sagte: „Herr Wolff, der Krieg ist aus, die Nazis sind weg! Sie sind frei, Sie können machen, was Sie wollen!“ Wie Rothkegel berichtet, wäre Wolff zunächst völlig perplex gewesen.
Danach verlor Rothkegel Wolff zunächst aus den Augen. Er erklärt dazu, dass man sich in der Nachkriegszeit um zu viele verschiedene Dinge kümmern musste. Wolff wurde bis September 1945 von einer an der Schönhauser Allee lebenden Familie aus der Gemeinde aufgenommen. Die extremen Anstrengungen des Lebens im Untergrund hatten offenbar ihre Spuren hinterlassen – gelegentlich soll Wolff mit Gegenständen geredet haben. Auch körperlich war er gezeichnet. In den Unterlagen des Berliner Entschädigungsamtes gibt er an, dass die Unterernährung, die Überanstrengung und die nervöse Belastung der Jahre im Untergrund ein Herzleiden hervorgerufen hätten, das zu einer Erwerbsunfähigkeit führte. Als Antwort auf seinen Entschädigungsantrag wurde ihm eine Verschlimmerung eines Herzmuskelschadens anerkannt. Nach dem Aufenthalt in der Wohnung an der Schönhauser Alle wurde ihm eine eigene Wohnung in Kreuzberg zugewiesen. Später wanderte er in die USA aus, kehrte aber wieder nach Berlin zurück. Bis an sein Lebensende erhielt er den Kontakt mit Personen aus der Herz-Jesu-Gemeinde aufrecht. 1969 starb er und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Charlottenburg begraben.
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