Wer die britische Hauptstadt besucht und die wichtigsten Sehenswürdigkeiten bereits abgegrast hat, sollte sich die „Cabinet War Rooms“ anschauen, die zu den bedeutendsten unterirdischen Bauwerken Londons gehören. Konkret handelt es sich dabei um den im Bezirk Whitehall liegenden geheimen Befehlsbunker der britischen Regierung während des Zweiten Weltkrieges. Die Anlage befindet sich unter einem großen Regierungsgebäude, dessen Keller entsprechend modifiziert und umgebaut wurde. Heutzutage besuchen täglich etwa 1200 Menschen den Bunker, darunter zahlreiche Amerikaner ... und viele lärmende Schulklassen!
Die Cabinet War Rooms wurden in den späten siebziger Jahren vom Imperial War Museum übernommen, nachdem sie einen jahrzehntelangen Dornröschenschlaf hinter sich hatten. Der Zustand der Anlage während des Krieges ist rekonstruiert worden, man atmet dort den staubigen, hölzernen Charme der dreißiger und vierziger Jahre ein. Auf dem Rundgang durch die langen Korridore fällt dem Besucher schnell auf, dass es sich im Grunde nur um einen großen, verschachtelten, mit Stahlträgern verstärkten Keller handelt (das legendäre britische Improvisationstalent lässt grüßen!). Die einzige Ausnahme ist das 2005 eröffnete, an den Komplex angebaute Churchill-Museum, das mit moderner Architektur und Technik das Leben des vielleicht größten Briten darstellt.
Der Mythos Winston Churchills ist letzten Endes auch der Schlüssel zum Verständnis dieser Anlage. Denn eigentlich gibt es dort nicht viel zu sehen. Der Bunker ist eine ehemalige Befehlszentrale mit diversen „Funktionsräumen“ – mehr nicht! Wer den horrenden Eintrittspreis von umgerechnet etwa 15 Euro bezahlt hat, wird sich am Ende möglicherweise fragen, ob der Besuch sich wirklich gelohnt hat. Auf der didaktischen Ebene drängt sich zudem die Frage auf, was diese Ausstellung den Besuchern eigentlich vermitteln soll (leider kann man auch in den Cabinet War Rooms nicht auf die übliche Sirenengeheul-Inszenierung verzichten). Und genau an diesem Punkt betritt Herr Churchill die Bühne. Rückschau ins Jahr 1940:
Die Nazis hatten innerhalb eines knappen Jahres halb Europa überrannt: Polen, Dänemark, Norwegen, Frankreich, Belgien, Luxemburg und die Niederlande waren innerhalb kürzester Zeit besetzt worden. Man kann sich heutzutage kaum noch vorstellen, welchen Schock allein der schnelle Zusammenbruch Frankreichs – bis dahin als Europas stärkste Militärmacht angesehen – bei den Zeitgenossen verursacht haben muss. De facto sah es damals so aus, als ob die Nazis unbesiegbar wären und Europa eine schreckliche Zukunft vor sich hätte. Nur ein einziges Land leistete noch Widerstand und stellte den letzten Hoffnungsträger dar: Großbritannien.
Nach den vorherigen Fehlern der „Appeasement-Politik“, die zu unnötigen Zugeständnissen gegenüber Hitler geführt hatte, war das Land seit dem deutschen Überfall auf Polen entschlossen, konsequent gegen die Nazis zu kämpfen. Der Premierminister Winston Churchill, der im Mai 1940 sein Amt angetreten hatte, war genau die richtige Person dafür. Die eigensinnige „Bulldogge“ stimmte die Nation auf einen langen, harten, entbehrungsreichen Kampf ein. Seine Reden strotzten vor Pathos, sprachen die Bevölkerung zugleich aber in einer sehr direkten, eindringlichen Art und Weise an. Churchill versprach keinen schnellen Sieg, sondern „blood, toil, tears and sweat“. Denn militärisch gesehen war die Lage durchaus kritisch:
Die britischen Streitkräfte hatten einen großen Teil ihres schweren Geräts bei dem Rückzug aus dem verbündeten Frankreich zurücklassen müssen. Das Land war auf einen Kampf gegen die hochgerüstete deutsche Armee nicht vorbereitet. Aber die Briten hatten zwei Asse auf der Hand: Ihr Radarsystem sowie die hochmodernen „Spitfire“- und „Hurricane“-Jagdflugzeuge ermöglichten es ihnen, der deutschen Luftwaffe, die die Insel sturmreif bomben sollte, eine blutige Nase zu verpassen. Über dem Himmel Südenglands sollte Großbritannien 1940 seine große Sternstunde erleben und den Mythos der deutschen Unbesiegbarkeit zerstören. Schließlich ließ Hitler, der möglicherweise noch auf eine Verständigung mit den Briten gehofft haben könnte, die geplante Invasion abblasen. Wären die Briten eingeknickt, hätte der Krieg vielleicht ein ganz anderes Ende gefunden.
Winston Churchill, der in den Cabinet War Rooms die britische Kriegsmaschinerie befehligte, hatte das Land somit durch seine gefährlichste Phase gesteuert und die Briten sind zu recht stolz auf diese Vergangenheit: Man kämpfte gegen das Böse schlechthin, man stand allein, man hielt zusammen – und man siegte! Im Laufe der Jahrzehnte ist so ein Mythos entstanden, der in den Medien endlos reproduziert wird und fast schon eine eigene Industrie darstellt ... von der seriösen Monographie bis zum Becher mit Winston Churchill-Aufschrift.
Das Jahr 1940 gewann in der Nachkriegszeit für die Briten auch deswegen einen besonderen Glanz, weil es ab 1945 mit Großbritannien steil bergab ging. Das weltumfassende Empire löste sich innerhalb weniger Jahrzehnte auf, das Land wurde von politischen Konflikten erschüttert und schien in den siebziger Jahren fast unregierbar geworden zu sein. Heutzutage zeichnet sich die britische Nation auf vielen Ebenen immer noch durch immense Kontraste und eine große Zerrissenheit aus ... und möchte am liebsten wieder in den glorreichen Sommer des Jahres 1940 zurück. Es ist genau diese nostalgische Sehnsucht, die den Cabinet War Rooms einen endlosen Besucherstrom garantiert!
Weitere Infos unter http://www.iwm.org.uk (Imperial War Museum)
Oktober 2009