Ein neues Buch, das am 9. März in Berlin vorgestellt wurde, erzählt die bewegende Geschichte von Margot Friedlander. Sie gehörte zu den etwa 5000 bis 7000 jüdischen „U-Booten“, die während des Krieges in Berlin versuchten, sich der Deportation in die Konzentrationslager durch ein Leben im Untergrund zu entziehen. Ungefähr 1400 davon haben bis zum Kriegsende überlebt. Margot Friedlanders Schicksal war besonders dramatisch: Zusammen mit ihrer Mutter und ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Ralph hatte die 21-jährige ihre illegale Existenz bereits vorbereitet. Aber kurz vor dem „Stichtag“ schlug die Gestapo am 20. Januar 1943 zu und verhaftete Ralph. Die Mutter war darüber so entsetzt, dass sie dem sensiblen Jungen freiwillig in die Deportation folgte. Beide kamen nach Auschwitz. Die Mutter wurde dort sofort vergast, Ralph starb einen Monat später. Margot wiederum versuchte, sich im Untergrund durchzuschlagen.
Ihre Existenz als „U-Boot“ dauerte fünfzehn Monate und setzte Margot immensen Belastungen aus. Sie musste ständig ihre Unterkunft wechseln und war immer auf die Hilfe anderer, oftmals fremder Personen angewiesen – die mitunter auch sexuelle Gegenleistungen verlangten (worauf Margot sich nicht einließ). Um weniger „jüdisch“ auszusehen, ließ sie sich sogar ihre Nase operieren. Im April 1944 wurde sie dann aber von für die Nazis arbeitenden jüdischen „Greifern“ verhaftet und ins Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt. Sie überlebte und heiratete nach der Befreiung ihren Freund Adolf, den sie im Lager kennengelernt hatte. 1946 emigrierten sie in die USA und ließen sich in New York nieder. Bis heute lebt Margot dort. Ihr Mann verstarb 1997.
Wie viele Holocaust-Überlebende hatte Margot über Jahrzehnte hinweg „ihre Sprache verloren“: Die traumatischen Erinnerungen an die Verfolgung, das Leben im Untergrund, das Grauen des Konzentrationslagers wurden weitgehend verdrängt. Man lebte ein neues Leben in einem neuen Land und wollte sich selbst und Andere mit diesen Erinnerungen nicht belasten. Auch Deutschland war kein Thema mehr – es war ja das Land der Mörder. Und trotzdem regte sich nach dem Tod ihres Mannes etwas in Margot, es gab da einen Unterschied zwischen ihr und anderen Überlebenden. Wie sie es in dem Buch formuliert: „Auch meine Familie war von den Deutschen ermordet worden. Aber das war nur ein Teil der Geschichte, meiner Geschichte. Meine Geschichte war anders als die der meisten Überlebenden, sie war komplizierter. Deutsche hatten mein Leben zerstört, Deutsche hatten es gerettet. Deutsche hatten mich versteckt, Juden mich ausgeliefert.“
Sie fing an, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Und im Jahre 2003 kehrte sie zusammen mit dem Regisseur Thomas Halaczinsky zum ersten Mal nach Berlin zurück. Halaczinskys Dokumentation über ihr Leben, „Don’t call it Heimweh“, eröffnete im Jahre 2005 die elften Jüdischen Filmfestspiele in Berlin und Potsdam. Und die zusammen mit Malin Schwerdtfeger verfassten Memoiren sind nun unter dem Namen „Versuche, dein Leben zu machen“ im Rowohlt Verlag erschienen. Der Titel bezieht sich auf die letzte Nachricht, die Margot von ihrer Mutter erhielt, bevor diese sich den Nazis stellte. Während der Vorstellung des Buches im „Literaturhaus Berlin“ kam Margot Friedlander auch noch mal auf die zentrale Erfahrung zurück, von ihrer Mutter verlassen zu werden. Dabei war deutlich die Ambivalenz zu spüren, die sich auch im Buch findet: Ralph war ein zerbrechlicher Junge und die Mutter glaubte wahrscheinlich, dass er ohne sie im Konzentrationslager keine Chance hätte. Deswegen folgte sie ihm – und ließ ihre Tochter zurück. Margot Friedlander sagte dazu, dass die Mutter ihr vielleicht so die Chance gab, „ihre Sache zu machen“. Aber gleichzeitig fragt sie sich, ob sie der Mutter nicht hätte folgen sollen. Hier wird einem klar, was für entsetzliche Entscheidungen die von den Nazis verfolgten Menschen manchmal treffen mussten.
Margot Friedlander wirkt trotz ihres hohen Alters sehr lebhaft. Und sie spricht immer noch ein fließendes, akzentfreies Deutsch. Nur selten sucht sie nach Wörtern. Bei Lesungen in Schulen will sie ihre Erfahrungen auch jüngeren Deutschen vermitteln. Dass bei der Vorstellung des Buches trotz des BVG-Streiks etwa 140 Personen das Literaturhaus in der Fasanenstraße (über)füllten, ist ein positives Zeichen. Vielleicht hat mit dem Buch auch die Stadt Berlin ein Stück ihrer Geschichte wiedergefunden!
Margot Friedlander mit Malin Schwerdtfeger: „Versuche, dein Leben zu machen“
Rowohlt Berlin Verlag 2008
ISBN 978 3 87134 587 6
19,90 Euro