Weiter zum Reichstag. Hier befinden sich zwei interessante unterirdische Orte des Gedenkens: Im Untergeschoss des Osteinganges hat der französische Künstler Christian Boltanski 1999 im Rahmen des „Kunst am Bau“-Projektes ein „Archiv der Deutschen Abgeordneten“ eingerichtet. Es besteht aus 5000 Metallkästen, die in zwei länglichen, bis zur Decke gehenden Blöcken angeordnet sind. Man kann zwischen ihnen durchgehen. Kohlefadenlampen strahlen in dem schmalen, etwa zehn Meter langen Gang ein fahles, unwirkliches Licht aus. Die Kästen tragen die Namen der 5000 von 1919 bis 1999 in den Reichstag gewählten Abgeordneten. Die einzelnen Kästen der von den Nazis ermordeten Abgeordneten sind dabei mit schwarzen Streifen markiert. Und eine schwarze Box weist auf die Jahre 1933 bis 1945 hin, in denen es in Deutschland kein demokratisch gewähltes Parlament gab.
Boltanskis „Kellerarchiv“ lässt sich als ein Gedächtnis der Demokratie im Reichstag verstehen. Mit Bezug auf seine unterirdische Lage drängt sich dabei auch der Begriff des Unterbewusstseins auf. Andere mögen die Kästen der Abgeordneten vielleicht als ein symbolisches, demokratisches Fundament des Bundestages ansehen. Auf jeden Fall wird der Betrachter hier an die eigentliche Funktion des Gebäudes erinnert – eine Funktion, die nach 1933 verloren ging. Der Reichstag beherbergte kein gewähltes Parlament mehr, wurde im Krieg schwer beschädigt und stand schließlich, seiner politischen Funktion weitgehend entblößt, direkt an der Berliner Mauer. Für viele Menschen hatte er sich in ein Symbol der Abgründe deutscher Geschichte verwandelt. Erst durch die Rückkehr des Parlaments im Jahre 1999 erhielt der Reichstag wieder seine ursprünglichen Bedeutung als Standort der Volksvertretung zurück. Wenn die 5000 Kästen in ihrer Gleichförmigkeit und geometrischen Ordnung eine parlamentarische Kontinuität suggerieren, so durchbricht Boltanski sie zugleich mit den Verweisen auf den Nationalsozialismus und seine Opfer. Das ist nicht nur eine historische Aussage, es kann auch als Verweis auf die Zerbrechlichkeit von Demokratien angesehen werden. Die „offene Gesellschaft“ ist nicht immer selbstverständlich! Bleibt in diesem Zusammenhang vielleicht noch hinzuzufügen, dass ein Mitarbeiter des Bundestages dem Verfasser berichtete, dass die Schilder auf den Kästen der KPD-Abgeordneten immer wieder abgerissen wurden!
Nicht weit entfernt von Boltanskis Werk befindet sich in einer Unterführung des Reichstages ein historisches Relikt, das an das Ende der ersten deutschen Demokratie erinnert: Am Abend des 27. Februars 1933 brannte es im Reichstag. Der Plenarsaal wurde dabei zum großen Teil zerstört. Ein niederländischer Kommunist namens Marinus van der Lubbe wurde als angeblicher Brandstifter verhaftet, durch ein nachträglich erlassenes Gesetz zum Tode verurteilt und hingerichtet. Vier weitere Angeklagte sprach man frei. Die Umstände des Brandes konnten bis jetzt immer noch nicht geklärt werden. Wahrscheinlich wird man nie genau wissen, was damals in dem Gebäude passierte. Aber die meisten Historiker sind sich zumindest einig, dass der Prozess gegen van der Lubbe eine Farce war und der Brand mit großer Wahrscheinlichkeit von den Nazis gelegt wurde. Denn bereits am nächsten Tag präsentierten sie die „Reichstagsbrandverordnung“, die alle Grundrechte praktisch außer Kraft setzte und die anschließende Verfolgung politischer Gegner legitimierte – als hätten die Nazis dieses Gesetz bereits „in der Schublade“ gehabt.
Von großer Relevanz ist in diesem Zusammenhang die Frage, wie die Brandstifter (es gab anscheinend mehrere Täter) überhaupt in den Reichstag gelangt sind. Schließlich handelte es sich um ein Gebäude, das abends bewacht bzw. verriegelt wurde. Eine mögliche Erklärung ist, dass die Brandstifter durch den „Reichstagstunnel“ kamen. Dieser schmale Heizungskanal hatte eine Länge von etwa 75 Metern und verband das Gebäude mit dem benachbarten Palais des Reichstagspräsidenten. Im August 1932 wurde Hermann Göring zum Präsidenten des Reichstages gewählt und war somit dort der „Hausherr“. Er hätte den Brandstiftern durch den Tunnel heimlich Zugang zum Reichstag verschaffen können. Auch die Flucht aus dem brennenden Gebäude wäre so unbemerkt möglich gewesen.
Zu DDR-Zeiten wurde der Tunnel vergittert. Der Reichstag lag nämlich im britischen Sektor, während das Palais sich im sowjetischen Bereich befand. Nach dem Bau der Mauer hätte man also durch den Tunnel in den Westen flüchten können. Beim Umbau und der Renovierung in den neunziger Jahren wurde der Reichstag durch ein unterirdisches Wegesystem mit den umliegenden Neubauten verbunden. Der alte Reichstagstunnel lag dabei im Wege und wurde abgerissen – bis auf einen etwa zweieinhalb Meter langen Abschnitt, den man heraussägte. Dieses Teilstück steht jetzt in der unterirdischen Passage, die vom Reichstag zum ehemaligen Palais (heutzutage Teil des Jakob-Kaiser-Hauses) führt. Zusammen mit Boltanskis Archiv kann er bei öffentlichen Führungen durch die Bundestagsgebäude besichtigt werden.
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