Zwei Kilometer nördlich des Reichstages liegt die Bernauer Straße. Hier verlief die Berliner Mauer direkt die Straße entlang. Die Häuser an der südlichen Seite lagen im sowjetischen Sektor, der Bürgersteig davor befand sich im Westen. Durch einen waghalsigen Sprung aus dem Fenster konnte man dem SED-Regime also noch entkommen. Westliche Medien berichteten ausführlich über diese gefährlichen Fluchtversuche. Die Häuser wurden dann von den Grenztruppen geräumt, verschlossen und schließlich bis auf Teile der vorderen Mauern abgerissen. Später entfernte man auch diese Reste.
Die Bernauer Straße sollte aber trotzdem noch mehrere Male in die Schlagzeilen geraten. Dafür gab es folgenden Grund: Die rudimentären Hindernisse, aus denen die Mauer anfangs bestand, wurden immer weiter ausgebaut und perfektioniert. Stacheldrahtverhaue verwandelten sich so in gestaffelte, mehrfach gesicherte Zonen, die kaum noch zu überwinden waren … zumindest nicht an der Oberfläche! Nach dem Bau der Mauer flüchteten viele Menschen zunächst durch die Kanalisation, die dann aber auch versperrt wurde. Somit blieb nur noch die Möglichkeit, Tunnel zu graben. Das Umfeld der Bernauer Straße eignete sich für solche Vorhaben gut, man hatte auf dem leicht erhöhten Terrain weniger Probleme mit dem Grundwasser. Nach mehreren spektakulären Tunnelfluchten gab es jedoch, u.a. bedingt durch den Tod eines DDR-Grenzers, größere diplomatische Komplikationen. Der West-Berliner Senat entzog den Fluchthelfern deswegen die Unterstützung, die er ihnen zuvor heimlich gewährt hatte. In die Bernauer Straße kehrte Ruhe ein – aber eine Abnormität gab es noch: die inmitten des Todesstreifens liegende Versöhnungskirche. Ihre Gemeinde befand sich größtenteils im Westen Berlins und konnte die Kirche seit dem Mauerbau nicht mehr betreten. 1985 wurde das Bauwerk, das den DDR-Grenzern im Wege stand, schließlich gesprengt.
Nach der Wende errichteten Rudolf Reitermann und Peter Sassenroth an der Stelle der alten Versöhnungskirche einen neuen Sakralbau aus Stampflehm. Wenn man diese ungewöhnliche Kirche betritt, findet man am Altar auf dem Boden eine Glasplatte, die Einblick in den Untergrund gewährt. Der Besucher muss hier erst eine Zeit lang schauen, muss lesen bzw. fragen, bis er versteht, was dort zu sehen ist: Durch die Glasplatte kann man einen beim Bau der neuen Kirche freigelegten Abschnitt des Kellers der alten Versöhnungskirche erkennen. Ein paar Stufen sind dort sichtbar, und die verrostete Angel einer Tür. Und die Hohlblocksteine, mit denen 1961 der Eingang des Kellers vermauert wurde. Denn die Grenzer befürchteten, dass potentielle „Republikflüchtlinge“ sich in diesen Räumen verstecken und von dort aus in den Westen gelangen könnten.
Der vermauerte Keller unter der Glasplatte gehörte zum „verbotenen Untergrund“ der DDR. Der tyrannische Staat, dem die Menschen davonliefen, wollte ihre Flucht mit aller Gewalt verhinden. Das galt natürlich auch für den Untergrund: die gesperrten „Geisterbahnhöfe“ der Berliner S- und U-Bahn, der verschlossene „Mäusetunnel“ zwischen der U 2 und der U 6 im Bahnhof Stadtmitte, der blockierte Reichstagstunnel, die vergitterte Kanalisation, die nicht mehr zugänglichen Keller der Häuser im grenznahen Bereich sowie die abgeriegelten Bergwerksstollen an der deutsch-deutschen Grenze. Diese stringente, zugleich aber auch bizarr anmutende Logik kann man jetzt noch durch die Glasplatte im Boden der Versöhnungskirche erblicken. Am anderen Ende des Kellerabschnittes liegt übrigens auf dem Boden eine entschärfte Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg, die man bei den Bauarbeiten fand …
Hier endet unser Rundgang durch die unterirdischen Orte des Gedenkens in Berlin. Natürlich gibt es in der Stadt noch zahlreiche andere bedeutende Stätten dieser Art – so zum Beispiel die unterirdischen Bereiche des Jüdischen Museums, die „Topographie des Terrors“ oder die ehemaligen Haftkeller der Staatssicherheit in Hohenschönhausen. Entsprechende Hinweise sind im Stadtplan des unterirdischen Berlins auf dieser Website zu finden.
Copyright Niko Rollmann
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