Einen Kilometer vom Bebelplatz entfernt, südlich des Brandenburger Tores, befindet sich das im Mai 2005 eröffnete Holocaust-Mahnmal. Während Ullmans Werk sich auf die Anfänge des NS-Terrors bezieht, thematisiert das Holocaust-Mahnmal ihn in seiner letzten Konsequenz: dem systematischen, fabrikmäßig ausgeführten Völkermord. Die Stätte geht auf einen 1988 von der Publizistin Lea Rosh gegründeten Förderkreis zurück. 1994 wurde ein erster Wettbewerb zur Gestaltung eines Mahnmals ausgeschrieben. Helmut Kohl war jedoch mit dem prämierten Entwurf von Christine Jackob-Marks nicht einverstanden. Nach längeren Diskussionen gab es 1997 einen zweiten Wettbewerb. Das „Stelenfeld“ von Peter Eisenman und Richard Serra wurde dann ausgewählt, musste aber mehrfach modifiziert werden – was wiederum dazu führte, dass Serra ausstieg. Schließlich wurde der Entwurf vom Bundestag bestätigt. Durch die anhaltenden Debatten über Gestaltung, Lage und Kosten des Mahnmals konnte erst 2003 mit dem Bau angefangen werden. Als Standort hatte man ein Grundstück zwischen dem Tiergarten und der Wilhelmstraße ausgewählt, die bis 1945 das politische Machtzentrum Deutschlands war. Lea Rosh hatte sich dafür eingesetzt, dass man das Mahnmal direkt auf die Reste eines sich in der Nähe befindenden NS-Bunkers bauen sollte. Mit diesem Vorschlag konnte sie sich aber nicht durchsetzen.
Das Mahnmal besteht an der Oberfläche aus 2700 Betonstelen mit unterschiedlichen Höhen bis zu viereinhalb Metern. Sie erstrecken sich über eine Fläche von knapp 20 000 Quadratmetern. Von Anfang an wurde die Monumentalität dieses Entwurfes kritisiert, die von vielen Kritikern als nicht mehr zeitgemäß angesehen wurde. Eisenman hat im Laufe der Zeit verschiedene Erklärungen für seinen Entwurf abgegeben: Die Stelen sollen wie Wellen im Meer wirken; oder sie sollen wogende Getreidefelder darstellen. Vom ursprünglichen Modell der Stelen, das Eisenman zusammen mit Serra entwickelt hatte, sind diese Deutungen weit entfernt: Damals war noch von einer „Zone der Instabilität“ und einer „Zerstörung der Illusion von Sicherheit“ die Rede. Auf jeden Fall wurde bereits während der Planungsphase bemängelt, dass das Stelenfeld nicht nur zu groß, sondern auch zu abstrakt wäre. Es würden eindeutige Formen und Schriftzeichen fehlen. Besucher ohne Vorkenntnisse könnten sich fragen: „Was soll das denn bitte sein?“
Um die Aussage zu konkretisieren, wurde dem Denkmal ein von Dagmar von Wilcken konzipierter „Ort der Information“ untergeschoben (im wahrsten Sinne des Wortes). Dieser Entwurf hatte den Vorteil, dass Eisenmans Gestaltung der Oberfläche dafür nicht mehr verändert werden musste. Trotzdem zeigte sich Eisenman nicht gerade begeistert. Aber der Bundestag sprach sich für diese Kombination aus. In den unterirdischen Ausstellungsräumen hat Dagmar von Wilcken die Formensprache und den Symbolgehalt der Oberfläche fortgesetzt: In der Decke und auf dem Boden wird das Raster des Stelenfeldes zitiert, teilweise ragen Quader wie Verlängerungen der Stelen in die Räume hinein. So gehen die beiden Komponenten des Mahnmals ineinander über, ein offener Bruch in der Gestaltung wird damit vermieden.
Der „Ort der Information“ besteht aus einem Foyer, vier Ausstellungsräumen, einem Buchladen und zwei Vortragsräumen. Die Besucher sehen am Eingang zu den Ausstellungsräumen zuerst sechs überlebensgroße Photos einzelner Holocaust-Opfer. Danach betreten sie den dunklen „Raum der Dimensionen“. Dort sieht man im Boden unter Glasflächen schriftliche Zeugnisse der verschleppten Juden: Briefe, Tagebucheinträge, Postkarten und Aufzeichnungen. Zugleich kann man an den Wänden die Anzahl der Ermordeten aus den verschiedenen Ländern des NS-Herrschaftsbereiches ablesen. Im folgenden „Raum der Familien“ werden 15 Schicksale einzelner Familien dokumentiert. Die Namen von 800 Opfern werden dann im „Raum der Namen“ an die Wände projeziert, zugleich sind ihre Lebensläufe zu hören. Schließlich stellt der „Raum der Orte“ 200 Stätten der NS-Menschenvernichtung exemplarisch dar. Ein Gedenkstättenportal weist am Ende des Rundganges auf andere Orte der Erinnerung für NS-Opfer in Europa hin und ermöglicht einen Zugriff auf die Datenbank der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.
Dagmar von Wilcken betonte, dass nur die Personalisierung der Opfer ihre Anonymität aufheben könnte. Auch wenn solch eine – zwangsläufig emotionalisierende – Form der Darstellung von etablierten Historikern mitunter angegriffen wird, lässt sich auf diese Art und Weise eine sehr eindringliche Wirkung erzielen. Denn der Genozid kann schnell in Zahlen und Fakten untergehen und sich in ein „historisches Ereignis“ verwandeln. Eine individualisierte Vorgehensweise hingegen ist anschaulicher. In der Verflechtung der geschichtlichen Darstellung mit einzelnen Schicksalen entsteht dabei ein nachhaltiges Bild jener Vorgänge, die für viele Menschen nicht nachvollziehbar sind. Die Abgeschiedenheit des unterirdischen Ortes verleiht den Ausstellungsräumen dabei etwas meditatives bzw. sakrales. Der Besucher befindet sich zwar mitten in Berlin, wird zugleich aber von der aggressiven Urbanität des Stadtzentrums abgeschirmt. In den schwach beleuchteten Räumen drängt sich der Gedanke an unterirdische Heiligtümer oder die Krypten von Kirchen auf. Der „Raum der Namen“ knüpft mit seiner Benennung der Opfer an den mittelalterlichen Totenkult, der „Memoria“, an: Menschen, deren Namen man noch ausspricht, sind nicht ganz und gar ausgelöscht worden. Die Erinnerung besteht fort …
Vielleicht war es somit ein Glücksfall, dass die Ausstellungsräume erst „nachträglich“ unter Eisenmans Stelenfeld gesetzt wurden. Unter der Erde wirken sie eindringlicher als an der Oberfläche. Wenn das Stelenfeld auf absehbare Zeit wohl umstritten bleiben wird, so ist der „Ort der Information“ sicher ein angemessener, erfolgreicher Entwurf.
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